Mit dem Rücken zum Film!

Er hat den ganzen Tag schon gestört, erklärte mir die Horterzieherin. Der weinende „Ãœbeltäter“ saß den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt, heftig schluchzend an einem Tisch weitab von den anderen Kindern. 

Mein Sohn – ein „Hauskind“ – also eines der wenigen Kinder, das nach der Schule nach Hause gehen durfte, und nicht in den unbeliebten Hort musste, war dagegen in guter Stimmung. Laut diskutierte und lachte er mit anderen – offenbar über den Film, den sie gemeinsam gesehen hatten. Da der Nachmittag auch als Pioniernachmittag deklariert worden war, hatte er mit ins Kino gedurft. Ansonsten achtete man in dieser Klasse peinlich genau darauf, dass die beiden Hauskinder ihr Anderssein möglichst auch als Ausgeschlossensein erlebten. Ganz nach dem Motto: Wir vertrauen den Eltern, aber die Kinder haben wir doch gern so lange und so oft wie möglich unter unserer Kontrolle. DDR eben. 1978.

Für das schluchzende Kind, das mich beschäftigte, interessierte sich die Horterzieherin nicht. Sie erklärte mir auf meine Nachfrage, ohne eine Gefühlsregung: „Er hat im Kino mit dem Rücken zum Film stehen müssen, beim nächsten Mal benimmt er sich vielleicht vorher anders.“

Diese „Erziehungsmaßnahme“ der Erzieherin habe ich damals nicht hingenommen. Es gab ganz, ganz viele Gespräche… Ich bin sehr sicher, dass sie nie wieder ein Kind so – oder auf ähnliche Weise - bestraft hat.

Hat jetzt vielleicht jemand gedacht: Typisch DDR? Das würde sich heute niemand erlauben, der mit Kindern zu tun hat? Falsch gedacht! Auch heute gibt es Menschen, denen man Kinder anvertraut und die diese Kinder, aus angeblich gutem Grund – bestrafen – sie ausschließen, demütigen und vor anderen blamieren. Die meisten dieser Erwachsenen sind nicht vor allem böse, sondern auf viellerlei Weise hilflos. Aber wer solche Hilflosigkeit bemerkt, an sich selbst oder an anderen, muss etwas tun.

Ja, das klingt alles ziemlich belehrend, abgeklärt und wissend. Aber in Wirklichkeit bin ich ratlos. Ich hörte heute von der Bestrafung eines 12jährigen Jungen. Ich nenne ihn hier einmal Moritz.

Moritz möchte gern ein großer Schauspieler werden. Deshalb gehört er seit vielen Jahren zu einem bekannten halbprofessionellen Kindertheaterensemble. Die anderen Kinder dort sind seine Freunde, und weil sehr oft geprobt wird, sind sie auch die Freunde, mit denen er sich sonst am häufigsten trifft. Aber jetzt ist plötzlich alles anders.

Seit einiger Zeit hat die die Truppe einen neuen Regisseur. Der hat den Eltern gesagt, dass ihr Sohn unbegabt sei – und sie sollten ihn lieber zum Sport schicken. Ein vernünftiger Schauspieler werde doch nie aus ihm. Egal, ob er einmal Schauspieler wird oder nicht – er möchte spielen und also soll er, antwortete der Vater.

Aber die Eltern bemerkten bald, dass der Sohn immer trauriger wurde.  Er bekam nur noch Nebenrollen und durfte manchmal überhaupt nicht mitspielen. Der Regisseur wählte oft die Ersatzbesetzung seiner Rollen für die Aufführungen aus. Sein eigener Sohn aber, der jetzt auch zum Ensemble gehörte, durfte immer mitspielen. 

Der Regisseur, mit dem die Kinder vorher geprobt hatten, hatte jedes Kind jede Rolle einmal spielen lassen – egal, ob Junge oder Mädchen. „Ihr müsst alles können: euch in einen Tisch verwandeln und in einen Tiger, ihr sollt den Wind spielen und aber auch eure eigene Großmutter.“ Sie hatten also den Wind gespielt und die Großmutter – und sie hatten viel gelacht. Moritz dachte gern an die „alten“ Zeiten. Aber er machte den neuen Regisseur nicht verantwortlich. „Ich vergesse jetzt so oft den Text!“, erklärte er entmutigt seinem Vater und: „Ich habe gar keine guten Ideen mehr!“ Schon damals vermutete der Moritz‘ Vater, dass sein Junge dabei war, sein Selbstbewusstsein zu verlieren, weil er während der Proben und nach den Aufführungen nur noch kritisiert und niemals gelobt wurde. 

Schließlich gab es ein Vorkommnis, das dann den Anlass für die Bestrafung von Moritz gab. Während der Generalprobe des neuen Stücks – die Eltern waren als Zuschauer anwesend – beschimpfte der Regisseur Moritz heftig: „Nur weil du zu blöd bist, dir deine Einsätze zu merken, muss ich hier unterbrechen… Du kannst einfach gar nichts. Geh in den Zoo und lass dich füttern.“  Moritz hatte aber seinen Einsatz nicht vergessen – er wollte nur eine längere Pause nach dem letzten Satz lassen… Moritz tippte sich mit dem Finger gegen die Stirn.

Nach der Probe sprachen die Eltern von Moritz mit dem Regisseur. Dieser war furchtbar aufgebracht, noch nie habe ein Kind ihm einen Vogel gezeigt. Sein eigenes Verhalten fand er nicht kritikwürdig. Moritz weinte.

Moritz darf jetzt nicht mehr mitspielen. Der Regisseur hat sich geweigert, weiter zu arbeiten, wenn Moritz in der Gruppe bliebe. So schrieb die Theaterleitung einen Brief an die Eltern von Moritz – ein derartig undiszipliniertes Kind sei in einem Ensemble untragbar. Moritz habe mehrfach gegen die Regeln verstoßen, deshalb sei hiermit der Ausbildungsvertrag fristlos gekündigt. An die Entlassung des Regisseurs hat die Theaterleitung offenbar nicht gedacht. 

Die Eltern stehen hinter ihrem Sohn. Moritz vermisst seine Freunde. Die Eltern trösten ihn und haben schon einiges unternommen. Schließlich bekommt die Theaterschule öffentliche Mittel. Natürlich würde die Auflösung des Ausbildungsvertrages einer gerichtlichen Überprüfung nicht standhalten. Aber was hätte Moritz davon? Er steht jetzt mit dem Rücken zum Film. Das wird er niemals vergessen.

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