„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“ oder: Kein Mensch soll ans Auswandern denken müssen, nirgendwo!

Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten

„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“ Das sagte Walter Ulbricht im Juni 1961 auf einer Pressekonferenz. Immer wieder wird der Satz aus der Mottenkiste geholt, um zu beweisen, wie verlogen doch die „Pankower Machthaber“ gewesen seien. So einfach ist es aber nicht. Ohne die Mauer, die weniger als zwei Monate später errichtet wurde, hätte sich die DDR wirtschaftlich nicht erholen können. Vorher war es einfach – besonders in Berlin – die Vorteile beider Stadthälften zu nutzen. Im Westen für „gutes“ Geld arbeiten – dann „umrubeln“ (obwohl es gar keine RUBEL gab) und im Osten billig wohnen und zum Friseur gehen. Niemand durfte das den Menschen übel nehmen. Doch ökonomisch konnte die DDR so nicht bestehen…

Als die Mauer gebaut wurde, war das ein Drama für viele Familien. Aber niemand musste aus der DDR fliehen, um Bomben zu entkommen. Niemand verhungerte. Trotzdem heißt es, der Bau der Mauer sei ein Verbrechen gewesen.

Wer einen Blick auf jene Zeit in Berlin werfen will, kann das tun – der Film „Und Deine Liebe auch“ von Paul Wiens (Drehbuch) und Frank Vogel (Regie) enthält viele Dokumentaraufnahmen und es wird nicht zu Unrecht behauptet, er sei verwandt mit dem Cinéma vérité („Kino der Wahrheit“). Einen Ausschnitt gibt es auf Youtube, kaufen kann man den Film – z. B. bei Amazon.

[youtube]https://www.youtube.com/watch?v=R4qpU6WIp4c[/youtube]

Europa mauert sich ein

Jetzt mauert sich Europa ein. Weil man bekanntlich auf den Meeren keine Mauern bauen kann, schickt man Kriegsschiffe. Zur Einschüchterung. Es heißt, man wolle die Schlepper bekämpfen. Es heißt, man wolle die Fluchtursachen bekämpfen. Es heißt, man wolle diejenigen mit Anrecht auf Asyl und Anrecht auf eine Aufnahme nach der Genfer Flüchtlingskonvention von denen trennen, die nur vor Not und Hunger fliehen und sich ein besseres Leben wünschen.

Die bittere Wahrheit ist: Europa hat Angst, seinen Reichtum zu teilen. Die reiche Welt will mit der armen Welt möglichst wenig zu tun haben. Die Europäer und die Amerikaner wollen Freiheit, Gleichheit und  Brüderlichkeit für sich und Rest der Welt soll sehen, dass er bleibt wo er ist. Wir liefern die Waffen für die Kriege überall, aber wir wollen kein Blut, keine Leichen sehen. Und schon gar keine lebendigen Menschen bei uns aufnehmen. Jedenfalls nicht so viele. Und die wenigen bitte auch nicht in der Nachbarschaft. Ich bin schon unangenehm aufgefallen bei uns in Pankow, weil ich auf einer Seite des Bürgerparks Platz für Wohncontainer für Flüchtlinge „entdeckte“.

Ein Europa ohne Grenzen war ist ein schöner Traum. Eine erstrebenswerte Utopie. Aber die Grenzen sitzen in den Köpfen. Europa versucht, sich einzumauern und den Schein der Menschlichkeit zu wahren. Doch das bleibt unmenschlich! Und es wird nicht funktionieren. Griechenland ist jetzt nicht mehr nur die Wiege der Demokratie sondern auch eine Tür. Der Verkauf von Menschen an einen Diktator wie Erdogan ist nicht nur unanständig, er wird auch keine Lösung sein. Vielleicht schafft sich das kapitalistische Europa so eine Atempause, aufatmen kann es nicht. Not macht erfinderisch, heißt es im Volksmund – und der hat manchmal recht: Die Fluchtrouten werden sich ändern. Das weiß doch jeder.

Flüchtlingskrisensprache

Flüchtlingskrisensprache

Keine Lust auf „arabische“ Verhältnisse

Nein, auch ich habe keine Lust auf „arabische“ Verhältnisse. Mir graut vor Ländern, in denen die Scharia Gesetz ist. Ich möchte, dass die Flüchtlinge, die in unser Land kommen, lernen – soweit sie anders sozialisiert sind – dass Frau und Mann gleichberechtigt sind und eine Religion Privatsache ist und alle Menschen gleich viel „wert“ sind, auch wenn sie sich in Aussehen und Herkunft unterscheiden.

Ich bin da strikt in meinen Erwartungen an die Ankommenden. Sie müssen die Sprache des Landes, in dem sie jetzt leben wollen, möglichst schnell lernen. Wenn es nicht ausreichend Kurse gibt, dann mit Hilfe des Fernsehens, mit Hilfe des Smartphones, mit allen Mitteln.

Jedes Verständnis fehlt mir dafür, dass es in deutschen Städten Viertel gibt, in denen die Polizei das Recht nicht mehr durchsetzt.  Manche nennen das „rechtsfreie Räume“. Diese Räume sind aber nicht rechtsfrei, dort gelten alle Gesetze so wie anderswo. Die sind durchzusetzen. Dafür ist der Staat verantwortlich. Egal ob Hells Angels oder libanesischer Familienclan – wer das Recht bricht, muss zur Verantwortung gezogen werden. Es ist sträflich, zu ignorieren, dass es Probleme gibt. Die Klagen von Polizisten, dass sie von einem Teil der Bevölkerung, von Migranten und Flüchtlingen nicht mehr ernst genommen werden, beschimpft und verlacht werden, dass Polizistinnen von muslimisch geprägten Männern oft überhaupt nicht respektiert werden, müssen gehört werden. Das ist die eine Seite. Aber erwähnt sei auch die andere deutsche: In Sachsen wird von Rechtsextremen gefordert, den Polizeipräsidenten zu erhängen.

Und wenn sie (die Muslime) uns eines Tages überstimmen – ala Houellebecqs „Unterwerfung“? Wenn Verbrecher ihre Regeln zu Regeln unseres Landes machen? Meine Antwort ist einfach: Wir sind verantwortlich für dieses Land und die ganze Welt. Aber ich gebe zu – ich habe Angst, weil viele Menschen diese Verantwortung nicht tragen wollen, andere hilflos sind und und und… Die christliche Nächstenliebe gilt nicht allen Christen für Muslime. Das christliche-jüdische Abendland wirkt nicht nur überfordert. Ich verstehe die Ängste der Armen, es könnte ihnen auf Grund der Flüchtlinge noch schlechter gehen, weil ich verstehe, was sie nicht verstehen: Das Verbrechen ist nicht, dass andere Arme so viel bekommen wie sie selbst. Das Verbrechen ist, dass alle Armen zu wenig haben.

Vorhin hörte ich einen Radioschnipsel, es ging um eine Essensausgabe in Idomeni – ein Afghane hatte von einer Verteilerin des Essens gesagt bekommen, er habe sowieso keine Chance auf Weiterreise und Asyl, also brauche er auch kein Essen und solle sich hinten anstellen…

Als ich C. erzählte, ich wolle eine afghanischen Familie in Deutsch unterrichten, sagte er: Die werden doch sowieso abgeschoben. Da hat er wohl Recht. Und er wollte mich wohl vor einem neuerlichen Misserfolg in der „Flüchtlingshilfe“ schützen – aber sein Satz zeigt auch, wie weit sie uns schon haben.

Die Menschen in Idomeni und anderswo hoffen auf Angela Merkel, aber sie werden vergebens hoffen.

Als die Massenflucht aus der DDR über die CSSR und Ungarn in den Westen begann, nannte man das eine Abstimmung mit den Füßen. Jetzt wird wieder abgestimmt. Auf der ganzen Welt.

Kein Mensch soll ans Auswandern denken müssen, nirgendwo

Im Tagesspiegel erschien vor einigen Wochen als Gastbeitrag ein Essay von Michael Hasin: „Warum ich als Jude ans Auswandern denke“. Darüber als kleine Überschrift, vermutlich vom Tagesspiegel gesetzt: Deutschland und die Flüchtlinge.
Womit sogleich für den Leser festgezurrt wurde, was unter dem Strich des Essays stehen wird, der Grund dafür, dass Juden in Deutschland ans Auswandern denken, sind die Flüchtlinge.
Dieses Fazit ist, auch wenn es mich als deutsche Kommunistin jüdischer Herkunft schmerzt, ja leider trotzdem wahr. Es gibt Juden in Deutschland, die wegen der hohen Zahl an arabischen, muslimischen Flüchtlingen, die zu uns nach Deutschland gekommen sind, ans Auswandern denken.

Beim Autor des Essays liest sich das so:

„Eine Welt ohne Grenzen ist eine gefährliche Utopie. Über den Weg, den Angela Merkel eingeschlagen hat, bin ich entsetzt. Das geht vielen Juden hier so. Einige wollen das Land verlassen.“

Eine Welt ohne Grenzen ist natürlich und keine gefährliche Utopie. Eine Welt ohne Grenzen muss unser Ziel bleiben, wenn wir als Menschheit menschlich überleben wollen.

Hasins Essay hat mich so wütend gemacht, weil er die gegenwärtige Misere damit begründet, dass wir (falschen) Utopien folgten, statt einzusehen, dass Utopien nichts weiter wären als „irreale Antworten auf reale Probleme“. Sein Angriff auf das kosmopolitische Denken endet in dem lauten Ruf: „Es bleibt nur noch die australische Lösung.“
Hier noch ein Zitat aus dem Essay:

„Dabei denke ich nicht an einen permanenten europäischen Verteilungsmechanismus für Migranten – das ist fast so, wie wenn man auf einem beschädigten Schiff, statt das Leck zu schließen, wartet, bis sich das Wasser im gesamten Rumpf ausgebreitet hat. Stattdessen bleibt nur noch die australische Lösung, und für diese Lösung bleibt nicht mehr viel Zeit. Europa wird mit afrikanischen Staaten verhandeln müssen, in denen es nach australischem Muster Flüchtlingscamps für alle Migranten ohne Visum geben wird, die die EU erreichen. Irgendjemand wird dann die irregulären Migranten aus den noch ankommenden Schlepperbooten aus Libyen oder der Türkei retten und sie danach in die Flüchtlingslager in Drittstaaten, nach Marokko oder Ruanda zum Beispiel, bringen müssen.“

Europa, das beschädigte Schiff, die Flüchtlinge vor Krieg, Hunger und Not aus aller Welt, das Wasser, die das Schiff zum Versinken bringen könnten. Allein der Vergleich ist furchtbar.  Ganz abgesehen davon, dass es umgekehrt richtig ist: Wir lassen es zu, dass Menschen, die zu uns wollen, ertrinken. Die Vorstellung, wir könnten die ungewollten Ankömmlinge einfach abtransportieren lassen und in Lagern unter fraglichen Verhältnissen in der Ferne einsperren, ist nicht nur entsetzlich unmenschlich, sondern auch absurd, wenn wir unsere Werte, die wir angeblich so hoch schätzen, weiterhin anerkennen.

Sollen sie gelten oder nicht? Die 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die Genfer Flüchtlingskonvention und Werte wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, sind sie unser humanistischer Konsens oder stehen sie zur Disposition?

Kein Konsens, kein Aufstand der Anständigen wegen Harz 4

Wenn ich mich umhöre und umsehe, im sogenannten wirklichen Leben und in den sogenannten Netzwerken, den zwei Seiten derselben Medaille, dann stehen diese Werte zur Disposition.
Auf der einen Seite begleitet eine große Hilfsbereitschaft der Bevölkerung die Ankommenden, auf der anderen Seite treffen sie bei einem ebenfalls großen Teil der Bevölkerung auf Ablehnung, ja sogar Hass.

Es ist leichter, ein „Willkommen bei uns“ zu rufen, wenn man am Monatsende nicht ins leere Portemonnaie starren muss. Nachdem eine einst soziale Arbeiterpartei gemeinsam mit ihren grünen Regierungsgefährten einen durchaus großen Teil der Bevölkerung in verordnete Armut stürzte und einen ebenfalls großen Teil der Bevölkerung in große Angst vor dieser verordneten Armut, blieb der notwendige Aufstand der Anständigen aus.

Die Montagsdemos lockten die Herren und Damen des gebildeten Bürgertums nicht auf die Straße – warum auch, ging es doch um einen großen Teil der Bevölkerung, deren Lebenswirklichkeit sie weder berührt noch interessiert. Diese Leute, das sind nicht ihre Freunde, Verwandte meist nicht einmal. Das sind Fremde. Die essen Nudeln und keine Spagettini, die trinken Bier und keinen Wein, deren Luxus sind die ihre Turnschuhe, was Kaschmir ist, wissen die gar nicht.
In einer Gesellschaft, in der angeblich jeder seines Glückes Schmied wäre, ist der weniger Glückliche eben selbst schuld und soll doch bitteschön das nicht auf die Gesellschaft schieben. Insofern kam Schröders „Fördern und Fordern“ gut an.

Die Presse, eine Märchenpresse, die die Regierungsverlautbarungen ungeprüft in die Landschaft posaunte, trägt einige Mitverantwortung daran, dass die Annahme, Hartz4 sei gar nicht so schlimm, zur Volksmeinung wurde. Besonders die ängstliche Mittelschicht wähnt sich zwar nicht in Sicherheit, hält das soziale Netz aber für tragfähig.

Ich weiß, wovon ich schreibe – so viel Unwissenheit wie in Bezug auf die Hartz4-Gesetzgebung findet man beim Bildungsbürger nicht einmal in Bezug auf die Abseitsregelung beim Fußball.

Man kann Menschen nicht in die Gesellschaft integrieren, aus der man sie vorher ausgestoßen hat. Die sind widerspenstig und manchmal werden sie sogar zu Terroristen.

Für mit uns lebende Migranten aller Generationen, war die Hartz4-Gesetzgebung ebenso ein Schritt in die falsche Richtung, wie für die sogenannten „Biodeutschen“ unter den Abgehängten und Entrechteten. Die Bezeichnung „Biodeutscher“ ist an sich schon ein Oxymoron und klingt in meinen Ohren wie prekärer Reichtum oder veganer Schweinefleischsalat.

Große Bevölkerungsschichten wurden abgehängt – besonders im Osten. Die sind empfänglich für einfache, rechte Propaganda ebenso wie sie sensibel sind für die Ungerechtigkeit, die sie am eigenen Leib erleben. Das fremde Leid ist ihnen eher fremd. Sachsen macht nicht nur Faxen, Sachsen ist auch Seismograph für das Unerledigte. Es ist einfach, die Besorgtbürger in Ecken zu treiben, in denen man sie nicht mehr erreicht. Der fehlende gesellschaftliche Diskurs wird uns teuer zu stehen kommen.

Die Bevölkerung ist längst gespalten, obwohl das viele meiner linken Freunde nicht wahrhaben wollen. Die Spaltung gilt für Ost und West. Gleichermaßen. Auch wenn sich die Prozentzahlen in dem Maße unterscheiden, wie das Durchschnittsvermögen oder die Sparguthaben oder die Arbeitslosenzahlen oder, oder oder…

Westdeutschland hat es fast geschafft, Deutschland könnte es schaffen

Noch einmal sei Michael Hasin zitiert:

„Es ist wahrscheinlich, aber nicht völlig sicher, dass einer Gesellschaft, die nicht weiß, wer sie ist und was sie sein will, die ökonomische und kulturelle Integration von Millionen und Millionen von Neuankömmlingen misslingen wird, mit der Folge unbeherrschbar wachsender interethnischer Spannungen.“

Es könnte sein, dass es schwierig wird, Millionen und Millionen zu integrieren, Deutschland hat sich bisher nicht gerade mit Ruhm bekleckert, was die Integration betrifft.

Die ökonomische Integration von 16 Millionen Bürgern der DDR ist inzwischen beinahe gelungen, wenn man sich die höheren Arbeitslosenzahlen und die niedrigeren Löhne und Renten im Osten wegdenkt.  Und auch die kulturelle Integration der ungeliebten Brüder und Schwestern aus der sogenannten ehemaligen DDR wirkt fast vollendet. Allerdings muss man wissen, dass manch Westler einen Kulturschock bekommen würde, wenn er sich die Stadt Forst oder andere abgehängte Ostgebiete ansehen müsste und die alten Ossis immer noch zu Weihnachten „Zwischen Frühstück und Gänsebraten“ gucken. Ich möchte allerdings lieber nicht erfahren, wie der Westen abstimmen würde, böte man ihm eine Rückkehr zur „alten Bundesrepublik“ mit all ihren sozialen Errungenschaften an – auf Kosten einer neu zu erbauenden Mauer als Abgrenzung zum Osten. Ich vermute, da wären die neuen Bundesländer ganz schnell die „ehemaligen“ neuen Bundesländer.

Die Integration vieler mit uns lebender Muslime der 2. oder 3. Generation ist tatsächlich gescheitert.  Die Ursachen sind vielfältig und bekannt. Das ändert nichts an den Tatsachen und lässt natürlich viele Menschen daran zweifeln, dass die Integration der zu uns kommenden Menschen zukünftig gelingen kann. Ich verstehe diese Zweifel, aber ich bin auch sicher, dass eine andere Politik die Probleme lösen könnte. Wir müssen versuchen, die alten Fehler nicht zu wiederholen. Wir werden sicher neue Fehler machen, aber die Kapitulation vor der Größe der Aufgabe, wäre der allergröße Fehler.

Die interethnischen Spannungen, die Michael Hasin befürchtet, es gibt ja durchaus schon welche – sind auf jedem Fall auf „unserem Mist“ gewachsen.  Die reiche kapitalistische Welt hat sich die Dritte und Vierte Welt selbst mitgeschaffen und produziert die dortigen Konflikte maßgeblich mit – oder hat sie in der Vergangenheit produziert. Sie hat die Entwicklungsländer nicht nur nicht entwickelt, sondern teilweise in ihrer Entwicklung behindert. Wer verkauft Waffen nach Saudi-Arabien und warum?

Deutschland hat jetzt keine Wahl – schon aus demografischen und also schlicht ökonomischen Gründen nicht. Vor allem aber nicht wegen seiner Verantwortung. Ich empfehle den Artikel des Migrationsforschers Klaus J. Bade „»Flüchtlingskrise« und Weltverantwortung“ .

Voraussetzung dafür, dass Deutschland es schafft, wäre ein radikales Umdenken – weg von dem Irrglauben, es könne alles so bleiben wie es ist, wenn wir uns nur ausreichend abschottengrenzen. Die Abkehr von der Utopie offener Grenzen und die Abkehr von dem Gedanken, man könne unbequeme Menschen abschieben und dann seien sie irgendwie weg – das sind unsere Fehler.

Es lebe die Utopie

Ohne eine radikale gesellschaftliche Veränderung und ohne Wiederbelebung von Utopien wird es nicht gehen!  Der Islamismus und der erstarkende Rechtsradikalismus, das sind Brüder im Geiste.

„“Es ist wahrscheinlich, aber nicht völlig sicher, dass Kriminelle und Terroristen aus dem gesamten Nahen Osten sich unter den Flüchtlingsstrom mischen und nach Europa kommen werden, so dass nach einiger Zeit auch der letzte Anschein staatlichen Gewaltmonopols verschwindet. Es ist wahrscheinlich, aber nicht völlig sicher, dass ein bedeutender Teil der Einheimischen das Vertrauen aufgibt in einen Staat, der die Kontrolle verloren hat, dass dieser Teil sich radikalisiert und die Systemfrage stellt, in der Wahlkabine oder auf der Straße. Das alles ist wahrscheinlich, aber eben nicht völlig sicher, hängt es doch von verschiedenen Annahmen ab, über die man endlos diskutieren kann, hängt es doch davon ab, welche Vorstellungen man hat von Ökonomie oder von der Existenz kulturspezifischen Verhaltens, vom Wesen des Islam, von Rassismus, von Kriminalität oder von der Attraktivität westlich-liberaler Werte.“

Noch so ein Zitat aus dem Essay von Michael Hasin. Das Schlimme ist: Seine Beurteilung der gegenwärtigen Lage teilen viele Menschen. Und die jüngsten Wahlergebnisse und die, die uns erwarten, scheinen ihm recht zu geben – die Menschen haben kein Vertrauen mehr in den Staat, sie fürchten sich vor einwandernder Kriminalität, vor Terroristen, die mit den Flüchtlingen kommen. Als wären die größten Verbrecher nicht schon hier.“Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? “ (Brecht).  Als gäbe es nur eine Möglichkeit zu uns zu kommen. Wie viele der Flüchtlinge, Einwanderer machen wir erst zu Verbrechern, weil wir ihnen keine Chance auf ein normales Leben lassen? Keine Arbeit, kein Bleiberecht, keine Heimat, keine Familie, nichts,  gar nichts – keine Zukunft.

Ja, es gibt viele unter denen, die zu uns kommen, die durch bittere Erfahrung gelernt haben: Gewalt ist das einzige Mittel der Durchsetzung der eigenen Interessen. Wir sind dafür verantwortlich, dass sie umlernen. Bleiberecht für Alle? Ja – auch wenn es schwer wird, ist das vielleicht unsere einzige Chance. Ich gebe es zu, ich bin da unsicher.

BLEIBERECHT FÃœR ALLE

BLEIBERECHT FÃœR ALLE

Das Ende des Sozialstaates

„Es ist aber sicher, nicht nur wahrscheinlich, dass jeder Sozialstaat bei einer Zuwanderung ohne absehbares Ende nach einigen, wenigen Jahren bankrott gehen wird. Beamtengehälter, Pensionen, Sozialleistungen werden schlicht nicht mehr gezahlt werden können, weil kein Geld mehr da ist, und auch niemand einem Staat Geld leihen wird für ein Projekt, dass ein Fass ohne Boden ist. Um darauf zu kommen braucht man keine klugen Theorien über die Natur des Menschen, dafür reicht Arithmetik auf Grundschulniveau. Klingt logisch, ja sogar trivial? Finde ich auch.“ (auch Michael Hasin – Warum ich als Jude ans Auswandern denke / Tagesspiegel – 23.1.2016)

Das ist weder logisch noch folgerichtig. Es ist genau die Angstmache, die Menschen verunsichert und die einen gegen die anderen hetzt. Altbürger gegen Neubürger. Die Flüchtlinge belegen nicht nur unsere Turnhallen und sogar ehemalige Hotels, sie werden unseren Sozialstaat kaputtmachen. Sie sind für Hasin ein „Projekt“, das ein „Fass ohne Boden“ ist. Das ist intelektuell verbrämte Menschenverachtung. Das macht mir Angst.

Die Rentenkürzungen, die Einführung von Hartz4, die vielen sogenannten Reformen, die die rot-grüne Regierung ohne bemerkenswerten Widerstand aus der Bevölkerung durchsetzte, blieben weitgehend unkommentiert von all denen, die jetzt ein zukünftiges Ende des Sozialstaates aufgrund der Einwanderung prognostizieren.

Ein Welt ohne Grenzen

Eine Welt ohne Grenzen ist eben nicht nur eine schöne Utopie, sie ist die einzige Lösung – möge sie auch noch so weit entfernt liegen. Die Ablehnung alles Utopischen als reine Fiktion, die die Menschheit nicht weiterbringt, ist längst widerlegt.

Flugkünstler

Flugkünstler

Beim Lesen des Essays von Hasin fiel mir sofort Brechts „Der Schneider von Ulm“ ein. Albrecht Berblinger (1770-1829), der als der „Schneider von Ulm“ bekannt wurde, baute einen Hängegleiter, mit dem er vor Publikum wohl auch deshalb in den Rhein stürzte, weil die Bedingungen zum Zeitpunkt seines Versuchs nicht optimal waren. Der wegen der Wetterbedingungen zögernde Berblinger bekam sogar noch einen Schubs eines Gendarmen, die Staatsmacht beförderte das Scheitern der Utopie.

1986 gelang mit einem Nachbau der Überflug. Berblinger aber, der Schneider von Ulm, wurde verlacht und als Lügner gebrandmarkt.

„Die Glocken sollen läuten,
Es waren nichts als Lügen,
Der Mensch ist kein Vogel,
Es wird nie ein Mensch fliegen“,
Sagte der Bischof den Leuten.

Brecht schrieb das Gedicht übrigens im 1937 Exil in Dänemark, es ist enthalten in den Svendborger Gedichten im zweiten Abschnitt – Finstere Zeiten – und heißt dort Ulm 1592.

Während ich am Schreibtisch sitze, blicke ich alle paar Minuten auf ein Flugzeug – zum Greifen nah, das unser Haus auf dem Weg nach Tegel überquert.  Und täglich sehe ich: Der Mensch kann längst fliegen.

Flugzeug

Der Mensch kann fliegen – sogar Flugzeuge

Noch so ein deutscher Flugzeugbauer träumte – Otto von Lilienthal schrieb in seinem Brief im Januar 1894 an Moritz von Egidy:

„Sehr geehrter Herr Oberstlieutenant.

Ihr Aufsatz über die Handelsverträge in der von mir gehaltenen „Versöhnung“ veranlaßt mich, einige Zeilen an Sie zu richten, um deren freundliche Aufnahme ich bitte.

Mit Begeisterung habe ich oft Ihren Worten gelauscht, in denen Sie die Grenzen nicht als Trennung, sondern als die Verbindung der Länder bezeichneten.

Auch ich habe mir die Beschaffung eines Kulturelementes zur Lebensaufgabe gemacht, welches Länder verbindend und Völker versöhnend wirken soll. Unser Kulturleben krankt daran, daß es sich nur an der Erdoberfläche abspielt. Die gegenseitige Absperrung der Länder, der Zollzwang und die Verkehrserschwerung ist nur dadurch möglich, daß wir nicht frei wie der Vogel auch das Luftreich beherrschen.

Der freie, unbeschränkte Flug des Menschen, für dessen Verwirklichung jetzt zahlreiche Techniker in allen Kulturstaaten ihr Bestes einsetzen, kann hierin Wandel schaffen und würde von tief einschneidender Wirkung auf alle unsere Zustände sein.

Die Grenzen der Länder würden Ihre Bedeutung verlieren, weil sie sich nicht mehr absperren lassen; die Unterschiede der Sprachen würden mit der zunehmenden Beweglichkeit der Menschen sich verwischen. Die Landesverteidigung, weil zur Unmöglichkeit geworden, würde aufhören, die besten Kräfte der Staaten zu verschlingen, und das zwingende Bedürfnis, die Streitigkeiten der Nationen auf andere Weise zu schlichten als den blutigen Kämpfen um die imaginär gewordenen Grenzen, würde uns den ewigen Frieden verschaffen.

Wir nähern uns diesem Ziele. Wann wir es ganz erreichen, weiß ich nicht. Das Schärflein, was ich hierzu beigetragen habe, finden Sie in den Anlagen. Ich werde froh sein, wenn ich einen kleinen realen Beitrag liefern kann zu den hohen und idealen Kulturaufgaben, welche Sie verfolgen.

Ihr ergebener
Otto Lilienthal

Wir brauchen die Utopien, sie sind unsere Rettung. Eine freundliche, friedliche Welt gleichberechtigter Menschen kann grenzenlos sein. Und niemand muss an Flucht oder Auswandern denken nirgendwo – außer: Ans Auswandern der Lust oder Liebe wegen und an Flucht wegen des Wetters.

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4 Antworten zu „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“ oder: Kein Mensch soll ans Auswandern denken müssen, nirgendwo!

  1. marie sagt:

    liebe maja, schön, von dir diesen beitrag in der fc zu lesen – ich bin dort nicht mehr aktiv, lese aber einiges mit. pardon, ich bin hier eher privat, weil ja unser kontakt nach dem gemeinsamen kaffee abgebrochen ist. (weißt du noch?)

    erstmal nur danke und liebe grüße … und auch etwas verwunderung, dass du deine meinung zu den montagsmahnwachen wohl sehr verändert hast ?!

    liebe grüße marie

  2. Maja Wiens sagt:

    Liebe Marie, natürlich erinnere ich mich an den Kaffee und sag hallo und wink zurück. Meine Meinung zu den Montagsmahnwachen geändert – wie kommst Du darauf?

  3. Uwe sagt:

    Vielen Dank für diesen Text!

  4. Annegret Peier sagt:

    Sorgen darf man haben, aber darüber darf die Menschlichkeit nicht vergessen werden. Auch wenn ich durchaus Schwierigkeiten sehe so viele Muslime zu integrieren, glaube ich, dass sich Europa nicht abschotten darf.

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