Die herrschende Moral

Moral steht immer in Beziehung zu herrschenden Systemen. Die herrschende Moral kann aber ganz unmoralisch sein, in den Augen des Einzelnen oder sogar in den Augen vieler. Die Aufforderung: „KAUFT NICHT BEI JUDEN!“ – wird heute allgemein als das gewertet, was sie ist: UNMORALISCH und VERBRECHERISCH. Aber im Deutschland der Nazis gab es keineswegs einen Volksaufstand wegen der Unmoral des herrschenden Systems. Die wenigen laut Widersprechenden landeten schnell in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern.

Einer, der sich als Matrose aus dem Staub machte, um nicht an den Verbrechen der deutschen Kriegsmarine beteiligt zu sein, der konnte durchaus an den anklagenden oder richtenden späteren Baden-Württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger geraten – der mit der ganzen Macht der unmoralischen Gesetze der damaligen Zeit töten ließ und der Unmoral zum Sieg verhalf.

Moralische Urteilsfähigkeit ist erlernbar.  Der Jäger, der sich der bösen Stiefmutter des guten Schneewittchens widersetzt – er ist für Kinder, die das Märchen hören, eine Möglichkeit zu erfahren, dass die gute Tat auch darin bestehen kann, sich der Anordnung der Mächtigen zu widersetzen.

Das praktische Erlebnis, welche unangenehmen Folgen ein moralisches Verhalten haben kann, lässt meist auch bei Kindern nicht lange auf sich warten… Die jüngsten Menschen erleben früh, dass sie unter Umständen machtlos sind gegen die manchmal unmoralische Gewalt der Erwachsenen. Die Konfrontation mit der Praxis bringt für Kinder die ersten Dilemmata – was sie gerade eben erst als „moralisches“ Handeln erkannt haben, kann durchaus mit Sanktionen belegt werden. Sich nach eigener Ansicht zu den GUTEN zählen zu dürfen, ist plötzlich höchst unangenehm.

Paul (6) schubst Benjamin (5) vom Roller. Es ist Pauls Roller, den sich Benjamin einfach genommen hat und nicht wieder hergeben will. Benjamin fällt hin und schlägt sich den Kopf auf, er blutet und ist sogar einen Moment bewusstlos. Karola (7), Benjamins Schwester, läuft zu ihrer Mutter und berichtet von dem Vorfall. Benjamins Mutter ruft später erbost Pauls Eltern an. Pauls Eltern reagieren: Paul wird ausgeschimpft und darf zur Strafe am Abend seine Lieblingssendung nicht sehen. Am nächsten Tag erlebt Karola, dass die Kinder auf dem Spielplatz nicht mehr mit ihr spielen wollen. „Du bist eine olle Petze!“, sagt Paul und die anderen Kinder rufen sie auch „Petze“. Wie wird Karola in Zukunft handeln? Was ist richtig, was ist falsch? Was ist nötig, damit Kinder PETZEN für unmoralisch halten? Wie können Kinder PETZEN von notwendiger Information unterscheiden? Können sie das überhaupt?

Wer „petzt“ – das Kind, das andere Kinder an Erwachsene verrät, wird von der Kindergruppe deutlich geächtet. Die Tatsache, dass durch das „Verpetzen“ vielleicht etwas ganz Schlimmes verhindert wurde, ist für die Beurteilung des Handelns der Petze (oder des Petzers) erst einmal unwichtig. Karola ist BÖSE – PETZE! Und weil sie BÖSE ist, wird Karola viellicht beim nächsten Mal ins Wasser geschubst. Egal, ob sie schwimmen kann oder nicht. Kinder, die die Folgen ihrer Handlungsweise nicht abschätzen können, beurteilen sehr wohl bereits abgeschlossene Handlungen und werten nach moralischen Kriterien. Nur sind ihre Kriterien eben oft nicht (oder noch nicht!), die der Erwachsenen.

Das kleine Kind hört auf seine Eltern, die sagen ihm, was Recht und Unrecht ist – und das kleine Kind glaubt ihnen unbedingt. Fest gemacht wird RECHT und UNRECHT an den Sanktionen, die an UNRECHT hängen. Ein jegliches Unrecht wird bestraft – und je „größer“ die Strafe, desto schlimmer war scheinbar das Unrecht…

wird fortgesetzt…

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