1.
Seit es dunkel geworden war, schlich er um sein Bett herum. Wagte nicht sich hineinzulegen, nach all der Erfahrung der letzten Zeit. Den durchwachten Nächten. Den Sekunden, die sich zu Stunden zu weiten schienen. Aber ausgerechnet im Bett hatte er früher die besten Gedanken gehabt. Das Kissen in den Rücken geschoben, hatte er auf dem Bett gelegen und geschrieben, manchmal hatte sie dabei neben ihm gelegen und ihm das Kissen entzogen, aber er hatte trotzdem schreiben können – damals.
Er kreiste das Bett ein. Als sei es der Mittelpunkt seines Lebens. Und das war es ja wohl auch. Jetzt so, wie früher.
Nur sein Leben hatte sich eben geändert. Der Weg zwischen Telefon und Bett, war der eigentliche Weg nach draußen, aber jetzt hatte er keine Lust, jemanden anzurufen. Das war schon längst vorbei. Schließlich beschloss er doch, sich hinzulegen. Versuchen Sie es, hatte sein Arzt gemeint und dabei gelächelt, wie es Väter zu tun pflegen, wenn sie ihren Söhnen erklären, dass das Leben eine ernste Sache ist. Er schmiegt sich an das Kissen, versuchte noch einmal ihren Geruch aus dem Kissen zu holen, aber es roch muffig und alt. Das Kissen hatte überhaupt seinen Reiz verloren. Nachdem sie ihn verlassen hatte, hatte ein Jegliches seinen Reiz verloren. Er warf das Kissen aus dem Bett. Aber wenn er schon sie nicht haben sollte, dann wenigstens das Kissen. Sie und das Kissen waren in diesem Moment dasselbe.
Und doch war es genau das nicht. Das Kissen blieb ein Kissen, so sehr er auch wünschen mochte, dass es anders sei. Er ließ das Kissen liegen wo es lag und versuchte noch einmal sich schlafen zu legen. Doch ohne Kissen zu schlafen, das schien ihm gänzlich unmöglich. Es musste etwas passieren. Jetzt. Gleich. Er musste hinaus. Auf die Straße. Und er wusste schon wohin.
2.
Endlich hatte er sie. Auf der Straße fühlte er sie in der Tasche seines Mantels. Das kühle Ding war merkwürdig warm. Die Häuser verloren ihre Umrisse…
3.
Heimgekehrt wusste er, dass er in dieser Nacht würde schlafen können. Die Angst war weg… Die Zukunft ängstigte ihn nicht mehr, denn sie lag offen vor ihm, wie die Seiten eines Bilderbuchs. Nichts Ungewisses erwartete ihn mehr. Endlich würde er bestimmen. Es würde sein wie er wollte. Dieses kleine Ding in jenem Paket verlieh ihm die Macht, über seine Zukunft zu entschieden. Während er das Paket, dass er wie zerbrechliches Glas auf dem Tisch abgelegt hatte, umkreiste, richtete er seinen Blick auch wieder auf die Dinge außerhalb des Tisches. Die Schreibmaschine. Das leere Blatt. Vielleicht könnte es jetzt gelingen. Aber ach, so oft diese Hoffnung ihn befallen hatte, so oft war sie zerplatzt wie eine Seifenblase. Nicht dort, nein dort lag die Zukunft. Er packte das Paket aus.
4.
Die Pistole. Kühl schwarz. Fremd. Fremde Heimat. Freund. Geliebte. Er und die Pistole waren eins.
5.
Er legte sie unter das Kissen. Und fiel in einen tiefen Schlaf.
6.
Noch während er wach wurde, wusste er, dass in dieser Nacht besser geschlafen hatte, als während der ganzen letzten Monate. Ich hab sie, ich hab sie, schoss es ihm immer wieder durch den Kopf. Es war wie eine Befreiung. Plötzlich schien alles um ihn herum wieder einen Namen zu bekommen. Er brachte es sogar fertig, das Fenster zu öffnen und nach draußen zu sehen. Aber das erschreckte ihn dann doch. Immer schon hatte er die Ruhe und Einsamkeit seines Zimmers geliebt. Wenn er es heute wagen würde, noch einmal, ein letztes Mal, ein allerletztes den Versuch wagen würde, vielleicht… Er nahm das Blatt. Er nahm den Stift. Er nahm sich. Er begann zu schreiben. A. A: A. AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA. Das Blatt begann sich zu füllen, wie wild füllte er es mit allem was in ihm war. A wie Anfang, A wie alles a. Aber es blieb beim A. Nichts darüber hinaus vermochte er sich zu entlocken. Alle Dinge hatte er immer nur angefangen. Nie etwas zu Ende gebracht. A war das einzige, was er konnte. Er war und blieb ein A-Alphabet. Er hätte sich ausschütten können vor Lachen. Er und ein Künstler. Ein Künstler mit einem Buchstaben. A wie Arschloch. Ja, das passte zu ihm, Arschloch. Arschloch hatte auch sie ihn genannt. Er selbst war nicht mehr als ein A… Die Verzweiflung hatte ihn wieder. Er saß gekrümmt, warf die A’s von sich, diese verdammten Anfänge. Es war an der Zeit ein Ende zu setzen.
„Schneidend scharf mit seinen Kanten stand der Tisch in der Zimmermitte, ein Glas darauf schoß kaltes Licht… Das Einfachste wäre gewesen aufstehen, die Tür hinter sich zuknallen, weggehen. Da wachte die Pistole auf dem Nachttisch auf und drehte sich mir zu mit ihrer Mündung. Noch einmal drehte ich sie um. Ein letztes Mal von mir selbst weg“ (J.R.Becher)
Alles schon hatten andere vor ihm gesagt. Einen Anfang hatten sie gefunden und ein Ende. Ihm aber war nichts geblieben, als wenigstens im Ende ein Sieger zu sein. Nur noch sich selbst hatte er zu besiegen. Er nahm die Pistole und trug sie vor sich her wie ein Schild. Er betrachtete sie, betastete sie. Machen wir uns bekannt Freund, flüsterte er vor sich hin. Er setzte sie sich an den Kopf, fühlte das kalte Eisen an der Stirn. Und fühlte sich plötzlich ertappt. Wehe, seine Mutter hätte ihn in jenem Moment gesehen. Aber Junge, denkst du denn gar nicht an mich. Nein, schrie er, nein, ich denke an mich. Als das Telefon klingelte, dachte er sofort, dass es nur sie sein könnte, Mutter. Sie hatte immer angerufen, wenn es ihm gar nicht passte. Dieses eine Mal aber würde er noch ans Telefon gehen, dieses eine Mal sagen: Ja, Mutter, ich esse regelmäßig. Nein, ich trinke den Kaffee nicht mehr so stark. Das würde er ihr sagen und vielleicht, wenn es ihm gelänge, könnte er ihr auch noch sagen, dass er sie liebe trotz alledem. Das alles ging ihm durch den Kopf, während er sich dem Telefon näherte und noch einmal wartete bis es klingelte, ehe er abhob.
Falsch verbunden. Jetzt. Das war das Letzte. Das Spiel war aus. Er ordnete seine Sachen. Warf alle A’s aus dem Fenster. Machte das Bett. Zerbrach den Stift. Setzte die Pistole an.
Es klopfte.
(Der Text – ein Auftrag – Vorlage für die Choreografie - Abschlussprüfung einer Tänzerin – 1994 – Staatliche Ballettschule)