Fremde Einsichten (1)

Ausgerechnet heute habe ich diesen dussligen Arzttermin, denkt Kerstin, während sie ihre Tasche packt. Lieber würde sie ja das Auto schnappen und an den Kiessee fahren – zum Baden. Kerstin hat überhaupt keine Lust auf diese von ihr vermuteten reichlichen zwei Stunden Wartezeit – sie hat so ihre Erfahrungen gemacht mit dieser Hautarztpraxis. Sie wirft das Handy in die Tasche, reißt eine Tüte mit Bonbons auf, zählt fünf ab, guckt auf die schlecht lesbare Kalorientabelle auf der Rückseite der Packung, stellt fest, dass sie den Text nicht lesen kann und beginnt, ihre Brille zu suchen. Aber die Brille ist nicht da. Nicht auf dem Wohnzimmertisch, nicht auf dem Küchenregal. Auch nicht auf der Badablage. Immer verlegt sie ihre Brille. Such dir einen Platz, wo du sie hinlegst und dann passiert dir das nicht mehr, sagt Sven, Kerstins Mann, immer. Ihre Mutter sagt das auch immer. Kerstin hat ihren eigenen Kopf und in dem ist kein Platz für einen Brillenplatz. Sie würde ja doch nicht daran denken, die Brille auch wirklich dorthin zu legen. Wenn sie aufhört zu lesen, dann legt sie die Brille ab. Ganz egal wo sie gerade ist. Und deshalb muss sie jetzt lange suchen. So kommt es, dass Kerstin in Zeitnot gerät. Endlich findet sie die Lesehilfe auf ein paar mit einer Klammer zusammengehaltenen kopierten Seiten. Der Titel ist groß genug gedruckt, Kerstin kann ihn auch ohne Brille lesen: Die Ermordung einer Butterblume. Kerstin steckt Brille und den Text in die Tasche. Greift hastig nach der Jacke. Knallt die Tür hinter sich zu. Schließt nicht ab. Springt jeweils die letzten Stufen eines Treppenabsatzes herunter wie ein Teenager.

Auf der Motorhaube ihres Autos entdeckt Kerstin einen Beutel. Einen Baumwollbeutel, der sich um ein irgendetwas schmiegt, während seine Henkel im Wind flattern. Kerstin ist sofort wütend. Das hat ihr gerade noch gefehlt. Am liebsten würde sie nach dem Beutel greifen und ihn in hohem Bogen… Aber das tut man nicht. Der verinnerlichte einerzogene Anstand hindert sie, ihrem ersten Gefühl zu folgen. Ich werde zu spät kommen, denkt Kerstin. Das kostet mich eine zusätzliche Stunde, garantiert. Nur weil irgendwer meine Motorhaube als Ablage für seinen Kram missbraucht… Trotz ihrer Verärgerung schnappt sich Kerstin die Tasche und ruft ein lautes „Hallo“ in die Gegend. „Hallo“, ruft sie noch einmal „hat hier irgendwer seinen Beutel verloren?“ Die Gegend besteht übrigens aus einem ziemlich belebten Fußweg vor einem Gemüseladen, dessen Auslagen regelmäßig Passanten zum guckenden Bleiben veranlasst. Kerstin erntet einige wenige Blicke – aber kein: „Das ist meiner!“ Jetzt hat sie die Wahl – sie könnte den Beutel elegant fallenlassen. Dann läge er, gut sichtbar, am Rand des Bürgersteigs. Sie kann auch in den Beutel hineinsehen und dann weitere Ãœberlegungen anstellen, aber das kostet Zeit. Kerstin entschließt sich trotzdem für die zeitraubende Guckvariante. Der Beutel enthält ein Portmonaie, ein Büchlein, ein Päckchen Tempotaschentücher und eine Packung Milchdrops für Hunde. Wegen des Portmonaises fällt die Ablage auf dem Bürgersteig aus. Kerstin nimmt den Beutel mit. Sie wirft noch einen Blick auf das Büchlein, ehe sie es zurück in den Beutel wirft. „Ansichten und Einsichten – Tagebuch“ steht darauf.

(Fortsetzung folgt)

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