Gespräch mit einem schwarzen Vogel

Mitten in der Nacht klopft es ans Fenster.

Vor dem Fenster sitzt ein großer, schwarzer Vogel.

Ich öffne das Fenster und denke, dass er auffliegen wird, aber er bleibt sitzen.

Vorsichtig berühre ich das Tier – etwas besorgt, der Vogel könnte krank sein.

Lass das, Du störst, ich denke nach, sagt der Vogel.

Also zuerst einmal hast Du gestört, beschwere ich mich, ignorierend, dass Vögel normaler Weise nicht besonders gut sprechen. Okay, dies scheint ein Rabe zu sein, die verfügen über erstaunliche Fähigkeiten, aber dass sie nächtens an Fenster klopfen und dann behaupten, sie dächten nach, ist wohl die Ausnahme.

Eine Weile ist Ruhe. Ich stehe am offenen Fenster und gucke auf einen nachdenkenden Vogel. Mir ist kalt. Am liebsten würde ich den Raben (bestimmt ist es ein Rabe) hereinbitten und zum Tee einladen. Aber so verrückt bin ich nun doch nicht.

Du kannst mich gern hereinbitten, es ist kalt, aber Tee trinke ich nicht. Ich bevorzuge Wasser. Sagt der Vogel. Gedankenlesen kann er also auch noch.

Ich sage nichts, trete aber ein Stück vom Fenster weg und der Vogel flattert herein und lässt sich auf dem blauen Sofa nieder.

Ich serviere dem Raben ein Glas San Pellegrino – wann hat man schon mal solchen Besuch – und gucke ihn abwartend da.

Er trinkt ein wenig und guckt mich dann an. Schöne große, glänzende Augen. Schweigt.

Nun sag schon, fordere ich, worüber denkst Du nach?

Ich wäre gern einmal ein bunter Vogel, sagt der Rabe, ich möchte einfach wissen, ob das Leben dann besser wäre. Aber ich weiß nicht, wie man ein bunter Vogel wird.

Sich mit fremden Federn schmücken, das wäre vielleicht eine Möglichkeit, aber keine gute, sage ich. Bleib einfach so wie Du bist: Schwarz und schön und klug.

Danke, dass Du das sagst, sagt der Rabe, ich habe das gebraucht. Wir spiegeln uns ja in den Augen der Fremden.

Und dann fliegt er auf, durch das immer noch geöffnete Fenster und schnell sind die Nacht und der Rabe nicht mehr voneinander zu unterscheiden.

Mir ist warm obwohl es kalt ist. Und ich verstehe jetzt das Sprichwort: Hör den Raben zu, und Du hörst die ganze Welt.

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