Einwurf zur Aktenlage – der „Fall“ Andrej Holm

Der „Fall“ Holm ist ein hervorragendes Beispiel für die nichtgewollte und längst gescheiterte sogenannte Aufarbeitung.

Der „Fall“ lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen. Holms politische Vorhaben missfallen einer Gruppe von Leuten, die nicht wollen, dass ihrem Streben nach Gewinnmaximierung Einhalt geboten wird. Der bereits als Linksextremist gebrandmarkte Holm ist gefährlich und wurde – so weit wie möglich – aus dem Weg geräumt. Seine Geschichte mit der Stasi passte perfekt. Da halfen natürlich auch wichtige  gutgemeinte und gut erklärende Solidaritätsbekundungen nichts. Siehe z.B. hier: Haus der Demokratie – Offener Brief

Als es begann, kannte ich das Ende. Möglichst weitgehende Vernichtung der beruflichen Existenz. Es funktioniert immer wieder auf gleiche Weise. Nach der Fragestellung „Einmal Stasi, immer Stasi“ wird die Frage nach einem langwierigen Scheinprozess systemimmanent beantwortet: Einmal Stasi, immer Stasi!

Schuld an der Antwort ist der IM, der Hauptamtliche Mitarbeiter, der Täter – hätte er doch zur rechten Zeit aufgeklärt, um Entschuldigung gebeten, sich rechtens geschämt, sich vollständig erinnert, sich nicht herausgeredet, nichts verschwiegen, seine Taten öffentlich gemacht (überall und lückenlos), die Fragen vollständig beantwortet, sich nicht um den Posten, die Stellung beworben – und so weiter und so fort.

Auf die Idee, dass das gar nicht geht, kommt die hysterisierte Meute dann nicht. Erinnerungslücken sind nicht zugelassen. Entschuldigungen reichen nicht aus. Die Scham ist keinesfalls öffentlich genug. Es gibt immer jemand, der vergessen wurde, bei der Information über die Vergangenheit – und sei es der Bäcker an der Ecke.

Er sei Teil eines Repressionsapparats gewesen, schreibt der 46-Jährige an die HU. „Diese historische Schuld nehme ich auf mich und bitte insbesondere diejenigen, denen in der DDR Leid zugeführt wurde, um Verzeihung.“ (Holm entschuldigt sich bei Stasi-Opfern – Spiegel-Online).

Entschuldigen sich nun auch die Macher von Hartz4 bei den Opfern des heutigen Repressionsapparates? Holm hätte seine Entschuldigungen formulieren können, wie er wollte – er hatte keine faire Chance. Keinen Prozess, keinen Verteidiger. Der Rechtsstaat mit den üblichen Gesetzen gilt nicht für ehemalige Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Sie sind schon mal per se schuldig, das rechtfertigt öffentliche Ächtung auf Dauer.

Beweismittel und Zeugen der Anklage sind die Akten, die das Ministerium für Staatssicherheit angelegt hat. Die Beurteilungen des „Bewerbers“ durch Offiziere des Ministeriums für Staatssicherheit sind plötzlich Maßstab, nach denen die heutige Gesellschaft entscheiden soll. Die Ãœberprüfung des Wahrheitsgehalts obliegt einer Behörde, deren Legitimation sich genau aus diesem zu Unrecht erworbenen Wissen herleitet. Sie hehlt mit den Akten. Hehlerei – „Mit dem Begriff der Hehlerei stehen Handlungen in Verbindung, die eine einmal begründete rechtswidrige Besitzlage an einer Sache, etwa durch Diebstahl, aufrechterhalten und verstärken.“ (Wikipedia)

Die wissenschaftliche Bearbeitung erfolgt zumeist fern ab von den Tätern, die auch wenig Interesse daran haben können, sich irgendwie zu beteiligen, denn wenn es ernst wird, sind sie die Dummen. Auch dafür ist der „Fall“ Holm ein gutes Beispiel. Es ist ja keineswegs so, dass er seine Beziehung zum MfS verschwiegen hat.  Er hat dazu verschiedenen Medien Rede und Antwort gestanden. Die hätten – wenn sie es denn gewollt hätten – früher Einblick nehmen können. Ebenso der Arbeitgeber – die Humboldt-Universität. Sogenannte Ehrenräte verdienen ihren Namen nicht.

Die im Internet über Andrej Holm verfügbare Stasi-Akte macht vor allem deutlich, dass der Einfluss, der jetzt von außen auf sein Leben, seine Biografie, genommen wurde, durch nichts darin gerechtfertigt ist. Da hat sich jemand vor weit mehr als zwei Jahrzehnten als Kind und Jugendlicher zu einer Berufslaufbahn verpflichtet, die der Geschichte der politischen Biografie seiner Familie geschuldet war. Ihm zu unterstellen, er hätte damit bewusst Menschen schaden wollen, ist durch nichts gerechtfertigt – auch nicht durch die Tatsache, dass andere (auch in seinem Alter) längst wussten oder ahnten, wie die Unterdrückungsmechanismen der Stasi funktionierten.

Auch ablesen kann man an der veröffentlichten Akte, wie sorglos die Behörde mit den Daten umgeht, mit denen sie umgeht. Noch einmal: Diese Daten wurden zu einem großen Teil zu Unrecht gesammelt. Wen geht es etwas an, ob Andrej Holm sein Abitur mit der Note „gut“ oder „sehr gut“ oder „mangelhaft“ abgelegt hat? Hat das Relevanz? Nein, hat es nicht. Deshalb schwärzt die Behörde das Prädikat. Das sieht dann so aus:

Holm - Abiturnote

Gut – Sehr gut – Befriedigend – Mangelhaft?

Ein schwarzer Balken auf drei Buchstaben. Nun kann der Interessent ja mal raten, ob unter dem Balken über den Buchstaben ein „sehr gut“ oder „gut“ oder sonst etwas etwas gestanden hat.

Na, nicht geraten? Aber das ist auch egal, die Information findet sich an anderer Stelle prominent.

Seite 6 ungeschwärzt - Abitur Holm

Aber man sage nicht, die Behörde lerne nicht dazu – im Netz findet sich auch die geschwärzte Variante.

Nochmal: Hat das Abiturergebnis von Andrej Holm von vor 28 Jahren irgendeine Bedeutung für die jetzige Einschätzung durch eine geneigte (oder weniger geneigte) Öffentlichkeit? Es hat keinerlei Bedeutung, mit welcher Note Andrej Holm vor 28 Jahren das Abitur ablegte. Aber es geht auch niemanden etwas an!

Vermutlich wird sich der kluge Andrej Holm aus der Situation herauswuseln und in irgendeiner Nische ankommen. Die MieterInnen in Berlin in brauchen ihn.

Leider wurde ich auch, was das Verhalten der Berliner LINKEN betrifft, in all meinen Erwartungen bestätigt. Dieser Tage fand ich auf der Webseite des Berliner Bundestagsabgeordneten der Linken Stefan Liebich unter dem Menüpunkt Themen – er hat immerhin 4 explizit genannte (Außenpolitik, DIE LINKE, Aufarbeitung der DDR-Geschichte und Meine Zeit im Berliner Abgeordnetenhaus 1995-2009) eine Erklärung für den „Fehler“ der LINKEN.

Der Berliner Linken-Bundestagsabgeordnete Stefan Liebich sieht die Verantwortung für die ernsthaften Dissonanzen im Fall Holm sowohl bei der SPD als auch bei der eigenen Partei, weniger bei den Grünen. „Wir haben uns alle nicht mit Ruhm bekleckert“, sagt er. „Unser Fehler war, dass wir uns nicht ausreichend mit der Aktenlage befasst haben.“

Aus: „Rot-Rot-Grün torpediert Rot-Rot-Grün“, Tagesspiegel, 16. Januar 2017

Aha, hätte die Berliner LINKE sich ausreichend mit der Aktenlage beschäftigt, dann hätte sie den ausgewiesenen Wissenschaftler Andrej Holm vermutlich gleich gar nicht erst als Staatssekretär in Betracht gezogen. Einmal Stasi immer Stasi, so handhabt das auch die LINKE – meistens jedenfalls.

Stefan Liebich,  hält seine eigene Stasigeschichte für so wesentlich, dass sie sogar in seinem Lebenslauf beschrieben wird:

„Als mich im Alter von 13 Jahren das Ministerium für Staatssicherheit fragte, ob ich bereit wäre, später dort hauptamtlich zu arbeiten, sagte ich nicht nein. Gut, dass alles anders kam.“ (Lebenslauf auf der Webseite)

Aha, Herr Liebich hatte also Glück. Die Gnade der späten Geburt hat ihn rechtzeitig umarmt. Sonst wäre er vielleicht nicht Bundestagsabgeordnerter sondern Hartz-4-Empfänger mit Stasi-Vergangenheit.

In einem Artikel des Tagesspiegels steigert Liebich seine Kritik an der eigenen Haltung als Kind drastisch: „Ich war damals sehr stolz. Das klingt schlimm. Und das ist es auch“.

Das klingt nicht schlimm und ist es auch nicht. Nach dieser Abrechnung mit sich selbst, darf Stefan Liebich als geläutert gelten. Und natürlich wird in diesem Land eine solche Haltung goutiert. Anerkennend stellt der Tagesspiegel fest:

„Inzwischen gehört er sogar zum vom Bundestag bestellten wissenschaftlichen Beratungsgremium der Stasiunterlagenbehörde.“ ( „Der Fall Holm, die Linke und die Stasi“, Tagesspiegel, 01. Januar 2017)

 Großartig! Obwohl er als 13-jähriger stolz darauf war,  dass er vom Ministerium für Staatssicherheit gefragt worden zu sein, ob er sich vorstellen könne, dort später zu arbeiten, ist der reuige Sünder im Schoß der kapitalistischen Gesellschaft angekommen und darf mitmachen. Als Mitglied eines wissenschaftlichen Beratergremiums der Stasiunterlagenbehörde zum Beispiel. Bravo! Stefan Liebich ist angekommen.

Doch zurück zur Aktenlage. Welche Akten hätte Herr Liebich denn besser kennen wollen? Die, die Stasi über Andrej Holm angelegt hat? Vor mehr als 28 Jahren? Siehe oben! Auch für den Abgeordneten der LINKEN ist plötzlich ist das Unrechtsministerium Zeuge und seine Belege sind Beweismittel. Die LINKE in Berlin ist letztlich eingeknickt wie immer – die eigene Macht war wichtiger. Und ging es dabei wirklich um die Menschen?

Vielleicht kann die LINKE ja nach 4 Jahren stolz auf 18 gebaute Sozialwohnungen sein, als sie das letzte Mal 8 Jahre mitregierte, brachte sie es auf 35 gebaute Sozialwohnungen. Rosa Luxemburg ist immer noch aktuell – die Frage, ob man den Sozialismus in kleinen Dosen in die kapitalistische Gesellschft einschmuggeln kann, stellt sich immer wieder. (Eine taktische Frage – Rosa Luxemburg 1899 – Klick)

Der „Fall Holm“ hätte eine Chance sein können, aber die Chance ist erneut vertan. Vielleicht auch, weil die Berufsaufarbeiter kein Interesse daran haben, dass die ganze Wahrheit ans Licht kommt.  Die ganze Wahrheit ist nämlich anders, komplizierter.

Wirkliche Aufarbeitung, kritsche Erinnerung, bräuchte neue Rahmenbedingungen. Diskussionen auf Augenhöhe zum Beispiel und ohne „Täter“, deren berufliche und sonstige Zukunft von ihren Antworten abhängt. Ohne Urteile, die schon feststehen.  Die Kategorie „moralisch schuldig“ bleibt fragwürdig und ist immer dem Zeitgeist unterworfen. Wenn sie beliebig aus der Tasche gezogen werden kann, macht sie die Angeklagten, die ohne Verteidigung und Prozess bleiben, zu Opfern.

Wer auf die Vergangenheit blickt und blind für die Gegenwart ist, sieht gar nichts.

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3 Antworten zu Einwurf zur Aktenlage – der „Fall“ Andrej Holm

  1. Volle Zustimmung – nicht nur was den ausgewiesenen Stadtsoziologen Andrej Holm angeht. Zur Causa Holm und dem Verhalten der „Linken“
    dazu(die Okkupation dieses Begriffs durch eine Partei ist ohnehin eine freche bis unverschämte Provokation) hat auch aufschreiber.com schon Stellung bezogen.

    Mir dreht sich der Magen um, wenn ich immer wieder von „Ehrenräten“ höre und lese. Haben wir nicht gerade TTIP und Ceta verhindert, weil bei diesen Freihandelsabkommen dubiose Ausschüsse ordentliche Gerichte ersetzen sollten?

    Meine erste Assoziation bei „Ehrenrat“ ist „Ehrenmord“. Der physische Mord an Menschen, die die wie auch immer begründete Ehrpuseligkeit ihrer Familien beschädigt haben sollen (sei es nun ein Mafia-Clan oder ein Verein religiöser Fanatiker).

    Natürlich bringen diese „Ehrenräte“ keine Menschen um, sei es mit Messer oder Kugel. Aber sie meucheln die bürgerliche Existenz der Betroffenen, sorgen für deren gesellschaftliche Ächtung. Man könnte meinen, auch das sei eine Form des Mordes. Und das ganze ohne jede gesetzliche Legitimation – und das kann einen Staat zum Unrechtsstaat machen.

    Und schließlich fällt mir zu dem zweifelhaften Begriff „Ehre“ auch noch ein Wort des berühmten römischen Dichters Horaz ein, geschrieben kurz vor Christi Geburt: „Dulce et decorum est pro patria mori“. Zu deutsch:
    Süß und ehrenhaft ist es, für das Vaterland zu sterben.

    Ergo: Schon vor 2000 Jahren waren Ehre und Blut eng miteinander verknüpft.

  2. Fritz der Gedankenblitz sagt:

    »Wer hat Holm verraten? Sozialdemokraten! Wer war dabei? Die Linkspartei!«

  3. tanzende Synapsen sagt:

    Andrej Holm sagte selbst, nachdem er vom Staatssekretärposten zurückgerufen wurde, dass allen Koalitionspartnern diese „Stasivergangenheit“ bekannt war. Das macht das Ganze noch perfider. Andererseits – wäre er deshalb nicht zurückgetreten worden, dann hätten sie einen anderen Grund gefunden. Der Mann weiß einfach zuviel über die Materie und hätte damit wahrscheinlich zuviel bewegt. Im Sinne der Mieter. Das geht doch nicht in einer solchen verfilzten Stadt wie Berlin, die heute nach an den Folgen des Bankenskandals krankt.

    PS: Schweigen ist keine Alternative. Bitte weiterschreiben.

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