Mariechen saß weinend im Garten oder Peter stört oder die Hermeneutik als geisteswissenschaftliche Methode

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Dienstagmorgen, dritte Unterrichtsstunde. Die Mädchen und Jungen des fünften Schuljahres, auf Drehstühlen an Vierertischen sitzend, haben den „Kalif Storch“ vor sich. Ein Mädchen liest: »… Ich wette meinen Bart, gnädigster Herr“, sagte der Großwesir, „diese zwei Langfüßler führen jetzt ein schönes Gespräch miteinander. Wie wäre es, wenn wir Störche würden? Wohl gesprochen!“ antwortete der Kalif … « Die Lehrerin steht am Fenster, ihren Text, für die Klasse die erste Ganzschrift, in der Hand. Sie überblickt ihre achtunddreißig »Kunden« und registriert nebenbei, daß auf der Korkleiste ein paar neue Zeichnungen angehängt sind. „Der Dieter«, denkt sie, „sieht wieder mal aus, als habe er bis Mitternacht am Fernsehapparat gesessen; man müßte mit den Eltern sprechen … Dein VW muß heute nachmittag zur Inspektion, nicht vergessen … Schade, daß der Rolf nicht mehr in der Klasse ist… Aber eigentlich hat sich der Verein seit Ostern ganz gut entwickelt … Verstehe gar nicht, weshalb Fräulein B. sich neulich über die Disziplin in der Fünften beklagt hat… Gerdas Lesen ist eine Katastrophe … « Ihr Blick bleibt an Peter Schneider hängen. Der Junge hat die Nase ins Buch gesteckt aber reichlich tief. Er liest nicht, er malt. Und zwar mitten hinein ins Schuleigentum. Peter ist seit längerem schwierig. Ihr erster Gedanke »Der Junge ist wenigstens beschäftigt« weicht dem zweiten: »Da muß etwas getan werden.« In diesem Augenblick hat Peter sein Kunstwerk beendet, wippt auf seinem Stuhl nach hinten, stößt einen Jungen des Nebentisches an, hält sein Buch hoch. Mehrere Kinder werden aufmerksam. Unterdrücktes Lachen. (Hennigsen – Peter stört)

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Mariechen saß weinend im Garten, singt sie vor sich hin und singt weiter, im Grabe da schlummert ihr Kind. Marie Mohnke weiß, daß es heißen muß: Im Grase da schlummert ihr Kind. Aber jedesmal singt sie im Grabe. Marie Mohnke bemüht sich sonst ständig, möglichst wenig falsch zu machen, so war sie schon immer. Seit sie denken kann, wollte sie alles so jederzeit so machen, daß niemand Anlaß hatte, sie zu schelten. So hat sie auch ihre Kinder erzogen. Ein einziges Mal in ihrem ganzen Leben hat sich Marie wirklich verweigert. Damals, als ihre Eltern meinten, sie solle Bäckerin werden. Nein, hat sie fest gesagt, ich werde Bibliothekarin. Die Eltern hatten nicht versucht, sie umzustimmen, waren viel zu überrascht, daß ihr Kind einen Wunsch geäußert hatte. Mit Büchern fühlte sie sich wohl. Nach der Lehre baute sie im Werk die Betriebsbibliothek auf und trat in die Partei ein.

3.

Im Text des Herrn Hennigsen gibt es drei Fräuleins, allesamt Lehrerinnen, die sich bemühen, mit der Unterrichtsstörung durch Peter fertig zu werden. Die eine schickt ihn zum Direktor und ist das Problem los. Die zweite packt ihn an der vermeintlichen Ehre, er will sich ja sicher nicht blamieren – vor den Eltern morgen – und lobt seine Mathematikkenntnisse. Die dritte veranstaltet eine Art Klassentribunal in dessen Folge Peter Wiedergutmachung leisten wird und dann wieder ein nützliches Glied der Klassengesellschaft werden darf.

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Eine Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen. Ein Baumarkt. Ein junger Mann, der durch die Gänge läuft. Er schiebt einen Einkaufswagen. Noch ist der Wagen leer.

5

Vergessen Sie nicht unser neues Thema: Gleich nach der Hochzeit ging er fremd. Wir warten auf Ihren Anruf. (RTL) Stehen sich ein Kreissler, ein VW und ein Daimler gegenüber, sagt der VW zum Kreissler: Ich kauf dich. Sagt der Daimler: Mach doch, dann sinken deine Aktien auch. Ursache der Armut in der dritten Welt, ist der Mangel an bezahlter Arbeit. (Schulbuch) Die Ratenfänger von links und rechts warten nur darauf, aus Zukunftsängsten ihren Profit zu schlagen, sagt Roman Herzog. Das ist jener Mann, der als Begründung dafür, seinem Sohn ab und an geohrfeigt zu haben, gemeint hat, dass er als Kind „auch schon mal eine Ohrfeige bekommen hat“, und behauptet, dass ihm das nicht geschadet hätte. Vielleicht doch und er hat es nur nicht gemerkt? Noch einmal Roman Herzog: Die Rattenfänger von links und rechts warten nur darauf, aus Zukunftsängsten ihren Profit zu schlagen. Wer aber sind die Ratten?

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Die Studenten eines erziehungswissenschaftlichen Seminars der Humboldt-Universität beschäftigen sich mit Peter, der den Unterricht gestört hat, indem er ins „Schuleigentum“ gemalt hat. Natürlich wissen die Studenten, daß es sich um eine fiktive, konstruierte Situation handelt, das ist Voraussetzung des Textes „Peter stört“. Dieser Text dient einzig und allein dazu, den Studenten die Hermeneutik als geisteswissenschaftliche Methode näher zu bringen. Zuerst einmal erfahren die Hochschüler, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, auf Peters Störung zu reagieren. Sie diskutieren Vorentwürfe möglichen Handelns. Nein, eigentlich betrachten sie die Diskussion der Vorentwürfe möglichen Handelns. „Die Situation gewährt einen gewissen Spielraum möglicher Entscheidungen. Das pädagogische Handeln ist zwar an die Situation gebunden, aber es ist nicht völlig durch sie determiniert.“ Das haben sie natürlich schon vorher gewusst. Einer denkt, sofort erschießen den Peter, und lacht in sich hinein. Die Studenten zerlegen auf Geheiß die pädagogische Situation in objektive und subjektive Bestandteile. Die eine Schicht ist „ein handfestes, in Zeit und Raum sich vollziehendes pädagogisches Geschehen“; die andere Schicht ist die „Theorie des verantwortlich Handelnden“. Alles klar?

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Marie Mohnke packt wie jeden Sonnabend früh eine Tasche mit Büchern, sorgfältig wählt sie die Titel. Bevor sie die Bücher in der dunkelbraunen Reisetasche verschwinden lässt, streichelt sie die Einbände mit einem Staubtuch. Ganz sacht. Bald nachdem sie in die Partei eingetreten war, verliebte sie sich in den Parteisekretär. Das hatte Folgen. Die erste Folge nannte sie Rainer, die zweite Ulrike. Sie zog die Kinder allein groß, verheimlichte allen – auch den Kindern – den Namen des Vaters und bemühte sich, zu vergessen, daß es ihn je gegeben hatte. Nach der Geburt Paulas folgte er dem Ruf der Partei und zog in eine andere Stadt.

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Die einzigartige Kombination aus echtem französischen Camembert und feinster Salami, heißt Cambell. Cambell von Reinert. Reinert. Wurst und gut.

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Der junge Mann im Baumarkt steht vor einem Regal und betrachtet die Werkzeuge. Eine weibliche Lautsprecherstimme preist den neuen Schwingschleifer der Firma Bosch an. Was suchen Sie denn, fragt ein Verkäufer. Ich weiß noch nicht so genau, antwortet der Mann. Mal sehn, ob ich was Schönes finde. Der bräuchte den Schwingschleifer fürs Gesicht, oder ne Freundin, damit der mal die ganzen Pickel wegkriegt, denkt der Verkäufer, sonst findet der nie was Schönes.

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Marie Mohnke ist unterwegs zum Flohmarkt. Sie fährt mit dem Fahrrad. Es war mal rot, und als man den Schriftzug noch lesen konnte, stand „Möwe“ drauf. Am frühen Sonnabendmorgen sind die Straßen leer. Die dunkelbraune Reisetasche hat Marie Mohnke fest auf den Gepäckträger gebunden. Während sie strampelt, zählt sie die Hundebesitzer, die Zeitungsverkäufer und die Betrunkenen vom Vorabend. Die Zahl der Betrunkenen ist gewöhnlich am höchsten.

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Die Studenten der Erziehungswissenschaft zerbrechen sich die Köpfe über Herrn Hennigsens Text „Peter stört“. Sie erfahren: Gegenstand erziehungswissenscbaftlicher Reflexion in der hier voraus¬gesetzten Bedeutung ist ganz entschieden nicht Vorentwurf künftigen pädagogischen Handelns, sondern Hermeneutik einer pädagogischen Wirklichkeit, die im Augenblick des Darübersprechens immer schon vorgegeben ist. Womit nur noch zu klären wäre, was die Hermeneutik einer pädagogischen Wirklichkeit ist.

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Sie: Wo kann ich eigentlich ohne großen Papierkram schnell mal ´ne Frage zum Euro loswerden, hm? Sprecher: Kein Problem. Die Deutsche Bank ist immer für Sie da. Rufen Sie einfach diese Nummer an. Euro- Infoline 0800- 123-1999. Bei uns erfahren Sie alles was Sie zum Thema Euro wissen möchten. Oder SIE machen gleich den Deutsche Bank EURO TEST. Der kostet Sie keinen Pfennig und Sie blicken durch. Sie haben Fragen zum Euro? Wir kennen die Risiken und die Chancen. Deutsche Bank. Die Bank für Europa.

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Der junge Mann hat einen Hammer entdeckt. Der gefällt ihm. Er hat einen schönen Stiel, das Eschenholz ist gut geschliffen und trotzdem nicht zu glatt. Der junge Mann betrachtet den Hammer lange. Seine Finger fahren über Bahn und Finne. Es ist ein Kreuzschlaghammer. Er wiegt ihn in der Hand, der Hammerkopf schätzt er, wiegt ungefähr 800 g.

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Gegen 6 Uhr 00 gelangt Marie Mohnke an ihr Ziel. Sie ist bekannt hier und beliebt. Sie kommt schon seit Jahren jeden Sonnabend und Sonntag hierher. Kein einziges Mal ist sie nicht gekommen. Bei Wind und Wetter steht sie gleich neben dem Imbiss an der Ecke. Paul, der hier Münzen und Briefmarken verkauft, räumt ihr immer einen halben Meter ein für ihre Bücher, einen eigenen Stand braucht sie nicht. Um sechs Uhr früh ist es noch leer auf dem Flohmarkt, da sind die Verrückten und sich, lästert Marie.

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In der Humboldt Universität referiert ein Student gelangweilt: Nach Hennigsen wird die dargestellte Situation überhaupt nur „behandelbar“, wenn man an die Situation Gesichtspunkte heranträgt, also Kriterien aufstellt, nach denen man die Situation durchprüft. Der hermeneutische Zirkel – dem man sich hier unterwirft – besteht darin, daß an die Situation Gesichtspunkte herangetragen und doch selbige aus ihr herausgelesen werden.

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Jetzt kann man unterwegs noch besser mit zu Hause in Verbindung bleiben. Denn das innovative High-Quality-Net E-Plus garantiert beste Sprachqualität. So nah als wär man da. Erleben Sie es selbst. E-Plus. So nah als wär man da.

17 Der junge Mann im Baumarkt schiebt den Einkaufswagen zur Kasse. Der Hammer liegt im Einkaufswagen. An der Kasse sitzt eine hübsche Kassiererin. Ein schöner Hammer, sagt der junge Mann zur hübschen Kassiererin. Einundzwanzigmarkneunundneunzig, sagt die hübsche Kassiererin zum jungen Mann.

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Schöne Sachen hab ich heute mit, sagt Marie zu Paul. Hast du doch immer, sagt er. Ich versteh es einfach nicht, sagt Marie, was die Leute so wegschmeißen. Das ganze Wissen der Welt findest du in den Müllkästen. Bist du wieder die ganze Woche durch die Container gekrochen, fragt Paul. Ich hab ja sonst nichts zu tun, sagt Marie, ich wäre ja glattweg arbeitslos.

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Die Luft im Seminarraum macht schläfrig. Noch immer referiert der Student: „Über die Diskussion der Handlungsentwürfe anhand von Gesichtspunkten mit den jeweiligen Vorerfahrungen gelingt das Erkennen von Spielräumen und Varianten ein und derselben Situation. Die Komplexität der Situation läßt Handlungsalternativen zu. Je mehr Erfahrung Mensch hat, desto mehr Facetten derselben Situation sind für denjenigen sichtbar. Hermeneutik ist eine Methode zur Reflexion dieser Erfahrungen. Die Bedeutung der Hermeneutik läßt sich durch einen Kurzvergleich mit den Leistungen der kausalanalytisch, empirisch- experimentellen Methode erfassen. Letztere reduziert Komplexität der natürlichen, geistigen und wissenschaftlichen Welt zur Schaffung isolierter Bedingungsvariablen. Dieses Vorgehen ermöglicht es Anwendern dieser Methode künstliche, planmäßige Experimente durchzuführen, die sich durch Wiederholbarkeit auszeichnen. Genaue Erkenntnisse über Ursache und Wirkung des interessierenden Sachverhaltes (in den durch Reduktion gesetzten Grenzen) sind die Folge. Die Anwendung der Hermeneutik auf einen Gegenstand, eröffnet die Möglichkeit, aus alten Erfahrungen neue zu gewinnen. Kennzeichnend für diese Methode ist das Bestreben, den in Rede stehenden Gegenstand so wenig wie möglich zu reduzieren. Dadurch bleibt das Ganze der Wirklichkeit im Blick, wird eine hohe Variabilität – und damit ein Facettenreichtum bei der Betrachtung des Gegenstandes – erreicht, der bei der Fokussierung der angewandten Empirie nie vorliegen kann.“

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Ein neues Medikament stürzt Krankenkassen in Rechenprobleme. Abertausende amerikanische Männer erleben in diesen Wochen ein blaues Wunder: Viagra. Die achteckige Pille mit dem himmelblauen Ãœberzug hilft besser gegen Impotenz als jede andere Methode zuvor. Zum ersten Mal lassen sich Erektionsstörungen bequem mit einer Tablette beheben, die man eine halbe Stunde vor dem geplanten Geschlechtsverkehr schlucken muss. „Meine Frau sagte, ich sei wie Tarzan gewesen“, freut sich zum Beispiel der 58jährige Alfred Pariser aus Los Angeles. (aus einer beinahe beliebigen Zeitung)

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Die Studenten verlassen den Seminarraum. Wenn Peter stört, weiß du, was ich dann machen würde, fragt einer einen anderen. Keine Ahnung. Das kommt ganz auf meine Intentionen an.

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Marie radelt nach Hause. Es ist später Sonnabendnachmittag.. Marie zählt Hundebesitzer, Zeitungsbesitzer und Betrunkene. Die Hundebesitzer sind in der Mehrzahl. Zu Hause angekommen kocht sie sich eine Tasse Kaffee und guckt auf den Anrufbeantworter. Das rote Lämpchen leuchtet nicht. Marie schaltet den Fernseher ein. Während sie die Tasche für den Sonntag packt, hört sie die Meldung: …hat der 19jährige Peter S. seinen 6jährigen Bruder mit einem Hammer erschlagen. Die Mutter, die eingreifen wollte, liegt schwerverletzt im Krankenhaus. Nach seinem Motiv befragt, gab der 19jährige Täter an, er habe den Hammer nur mal ausprobieren wollen.

(aus der Schublade – 1998)

 

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