Lange Geschichten

Es war ein Tick. Ganz eindeutig ein Tick. Amanda kannte niemanden sonst, der Kassenrollen, auch Bonrollen genannt, so liebte wie sie selbst. Jene ganz weißen aus glattem, holzfreiem Papier. Die elfenbeinfarbigen, rauen. Und auch jene nebelgrauen aus Umweltpapier.

Sie erinnerte sich genau daran, wie sie – damals war sie noch ein kleines Mädchen mit langen Zöpfen gewesen – zum ersten Mal eine in der Hand hatte. Mutter arbeitete damals vertretungsweise im Dorfkonsum, und weil es für Amanda keinen Kindergartenplatz gab, wartete sie in dem kleinen Kabuff hinter dem Verkaufsraum auf den Ladenschluss. Auf den kleinen, alten runden Tisch legte die Mutter ihr eine jener Rollen. Damit sie sich nicht langweile. Die Mutter legte auch Buntstifte neben die Rolle. Damals hatte es begonnen. Amanda verstaute die weiße Kassenrolle in ihrer kleinen Tasche, und fand gleich: Zum Bemalen war sie viel zu schade. Für Amanda stand fest: Wenn sie erst schreiben könnte, mehr als ihren Namen wie jetzt, dann müssten Buchstaben auf das Papier, nur dafür schien es ihr richtig und gemacht.

Amanda studierte BWL. Obwohl natürlich längst feststand, dass sie Schriftstellerin werden wollte, wofür sonst, hätte sie all diese Kassenrollen sammeln sollen. Jeden in den Ferien selbstverdienten Euro hatte sie in diese Leidenschaft gesteckt. Es musste ein Vorrat beschafft werden.

Die Vorstellung einmal Zeit zu haben alle diese weißen, grauen, gelblichen Streifen mit Worten, Buchstaben – mit jener schon so lange notwendigen Botschaft zu füllen, das wurde für Amanda kaum merklich zum Lebenszweck. Nur ein einziges Mal hatte sie es probiert, das wirkliche Schreiben.

In der 11. Klasse hatte sie es gewagt. Die Aufgabe lautete, einen eigenen Text zu schreiben. Egal ob Gedicht oder Kurzgeschichte. Die Arbeit am Text war hart. Amanda schrieb, strich durch, riss ein Stück von der Rolle ab, verbrannte den Fetzen und setzte neu an. Mit keinem Text war sie zufrieden. Bald war nur noch ein halber Meter des Papiers übrig. Endlich, dachte sie, alles ist endlich.

Endlich

alles

ist

endlich.

Papierrollen

und

das

Leben.

Nur

das

NICHTS

ist

endlos.

Als Amanda den Text der Klasse vorlas, erntete sie statt des erwarteten Lachens Beifall. Seither wusste sie, dass sie Schriftstellerin werden musste, und dass sie möglichst viele jener Rollen brauchte, damit es ihr im richtigen Moment nicht an der Grundlage fehle. Normales Papier, eigne sich überhaupt nicht zum Schreiben. Je nach Text müsse eine Rolle senkrecht oder waagerecht beschrieben werden.

Nach dem Studium, das sie mit einer bemerkenswert guten Note abschloss, bekam Amanda einen Job in einer dieser Firmen, in denen sich alle duzen, gemeinsam 12 -14 Stunden täglich arbeiten und am Abend dann vom mitarbeitendem Chef eine Pizza spendiert bekommen.

Wenn Amanda am späten Abend – nach dem Absacker – dann endlich in ihre Singlewohnung kam, war sie zu allem müde, sie hatte nicht einmal mehr Lust, mit einer Freundin zu telefonieren. Manchmal öffnete sie aus Spaß den Schrank mit den Kassenrollen und freute sich an dem Anblick, aber ans Schreiben war nicht zu denken. Wenigstens ließ sich davon träumen.

Sonntags beim Brunch, wenn man sich mal wieder aus lauter Tradition im variablen Freundeskreis traf, fragte manchmal einer:

Und, ist er schon fertig, dein Roman?

Dabei hatte sie nie gesagt, dass sie einen Roman schreiben wolle, aber das war ja auch egal. Zeit zum Schreiben blieb neben der Arbeit sowieso nicht, jedenfalls nicht genug für lange Geschichten. Eine Antwort warteten die Freunde beinahe nie ab, hielten sie doch das Schreiben ebenso für einen Tick wie die Sammelei dieser Kassenrollen. Amanda schien allen als bodenständig. Natürlich wussten sie von Amandas Leidenschaft, denn sie konnte einfach kein Café verlassen, ohne dem Personal eine der Rollen abgeschwatzt zu haben. Aber irgendeinen kleinen Tick haben schließlich alle Menschen, meinten auch Amandas Freunde und hielten sie nicht für besonders.

Die harte Arbeit hinterließ Spuren. An eine Beziehung war unter den Umständen nicht zu denken. Amanda begnügte sich mit kurzen Affären. Immerhin blieb wenigstens Geld übrig. So konnte sie ihren Vorrat an Rollen vergrößern und ein wenig Geld zurücklegen. Inzwischen war ihr längst klar, dass sie wenigstens ein oder zwei Jahre brauchen würde, um die langen Geschichten aufzuschreiben. Auch dann würde sie Miete zahlen und etwas essen müssen.

Er war Amanda noch nie aufgefallen. Der Junge von Gegenüber. Sie nahm ihn wahr wie alle anderen Menschen, mit denen sie in einem Haus lebte, man grüßte sich und wünschte einander „ein schönes Wochenende“ oder „schöne Feiertage“ – aber das war alles. Auf der Straße hätte sie ihn nicht einmal als einen Nachbarn erkannt. Als es klingelte, war sie schon verwundert, weil niemand Sonnabendabends bei ihr klingelte, wenn sie nicht gerade Mutter oder eine Freundin eingeladen hatte.

Der Junge von Gegenüber hatte strahlende Augen und lächelte.

Entschuldige, ich weiß, es ist Sonnabendabend und… Ich heiße Sebastian.

Sie sah ihn an und sagte nichts. Da fiel ihr die Werbung für einen Kinofilm ein, der jetzt dauernd im Fernsehen lief. Und sie antwortete doch:

Ich nicht.

Er kannte die Werbung natürlich auch.

Du wirst mich für verrückt halten, sagte er.

Möglich, ich halte viele Leute für verrückt, Amanda lächelte. Sie standen noch immer an der Tür. Er draußen, sie drin.

Komm rein, sagte sie. Warum sie ihn nun mit in die Wohnung nahm, wusste sie schon im nächsten Moment selbst nicht mehr.

Du liest wohl viel, fragte er, mit einem Seitenblick auf die gefüllten Regale im Korridor.

Nee, sagte sie, ich stelle die hier nur aus.

Sorry.

Was willst du denn nun? Eier? Brot? Zwiebeln?

Als er antwortete, erstarrte sie wie das Kaninchen vor der Schlange. hatte er wirklich „Kassenrollen“ gesagt? Er hatte. Woher wusste er überhaupt, dass sie welche hatte?

Als du eingezogen bist, standen da Kartons vor deiner Tür. Einer war offen. Vielleicht hast du sie ja noch. Ich brauche sie unbedingt, und ich habe keinen Schimmer, wo ich sonst jetzt welche herbekommen sollte.

An einen Seelenverwandten glaubte sie keine Sekunde. Wozu braucht jemand sonst Kassenrollen?

Willst du einen Tee? Sie musste verrückt sein, ihn jetzt auch noch zum Tee einzuladen, dachte sie über sich selbst, um sich dann einzugestehen, dass sie sich ja schon immer für ein wenig verrückt gehalten hatte.

Sebastian nickte: Gern. Wenn du schwarzen Tee hast.

Sonnabendabend und Tee, das passt ungefähr so gut zusammen wie Urlaub und November, dachte Sebastian.

Wozu brauchst du denn die Rollen?

Du hast sie noch? Er stand jetzt an der Küchentür. Er hatte wirklich schöne Augen. So ein Blau, das sie an den Himmel erinnerte. Himmelblau eben. Sie deutete auf das kleine Sofa in der Küche.

Ja, ich habe sie noch. Natürlich habe ich sie noch.

Obwohl Amanda der Gedanke, sie könne könne sich von ihren Rollen getrennt haben, undenkbar schien, musste das ja nicht für alle gelten.

Er sah sie an als er sagte: Ich brauche viele.  Sehr viele. Und zwar bis morgen früh. Ich habe keine Ahnung, wo ich die herkriegen soll.

Sie sagte nichts. Sie konnte ihm ja nicht ihre Rollen geben, das ginge beim besten Willen zu weit. Aber sagen, dass er von ihr keine einzige bekommen würde, das wollte sie auch nicht. Also schwieg sie.

Eigentlich könnte ich mich gleich von der Brücke stürzen, sagte Sebastian. Bis morgen früh brauche ich Dreizehneinhalbtausend. Die hat kein Mensch.

Doch, sagte Amanda. Ich.

Natürlich wollte er ihr nicht glauben. Aber sie glaubte aus einem ihr selbst unerfindlichem Grunde, er habe es ernst gemeint und wolle sich vielleicht von der Brücke stürzen.

Komm mit sagte Amanda und er folgte ihr ins Wohnzimmer.  Sie öffnete die Türen des großen Schranks, die Rollen in den 6 Vitrinen, sah man auch so.

Das ist ja verrückt, sagte Sebastian. So ein Zufall. Kannst du mir die borgen, ich habe ja welche bestellt, sie sind nur nicht pünktlich gekommen? Er fragte nicht, warum sie in ihrer Singlewohnung den meisten Platz  irgendwelchen Kassenroffen zugestanden hatte. Er fragte auch nicht, wozu sie sie aufbewahrte. Er sah sie nur an und lächelte.

Ich schenke sie dir. Amanda glaubte sich verhört zu haben, aber doch, das war ihre Stimme.

Mensch, darf  ich, er breitete die Arme aus – Amanda schwieg – und er umarmte sie.

Gemeinsam räumten sie die Rollen in seinen kleinen Transporter. Es wurde leer in Amandas Zimmer. Es störte sie überhaupt nicht. Beim Tee redeten sie dann über Alles und Nichts und lachten viel.

Als er weit nach Mitternacht gegangen war, wusste Amanda, dass das der schönste Abend seit Jahren gewesen war. Es war wie eine Befreiung. Kassenrollen sind nichts gegen himmelblaue Augen.

Lange Geschichten kann man auch am Computer schreiben, sagte sie später oft.

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Eine Antwort zu Lange Geschichten

  1. Miri sagt:

    Gefällt mir.

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