Vergammelte Milch und andere falsche Sichtweisen

Es erreichte mich inzwischen noch eine Mail und die lautet so:

„So sind se halt, die Kommunisten: starten Desinformationskampagnen durch die Verbreitung von Halbwahrheiten. Das Licht kommt aus dem Osten – aber im Westen ist es immer noch da, wenn die Sonne im Osten längst wieder untergegangen ist. 1. weil die Sonne dann im Westen noch scheint, 2. weil es dort die im Osten nicht sehr weit verbreiteten Glühbirnen flächendeckend zu kaufen gibt. Und das mit der vergammelten Milch in unterschiedlicher Verfremdungsform: Na klar, kommt aus dem südlichen Eurasien, schließlich hatten die da ja keine Kühlschränke. Und wenn sie frische Milch mit auf die Auswanderungsreise nach Amerika nahmen, war die bei der Ankunft natürlich auch vergammelt. Dann haben die Neu-Amis aus Eurasien damit das gleiche gemacht wie vorher zuhause und die GIs haben das Zeug in die Fressbeutel gekriegt, weil Milch ja nicht zweimal vergammeln kann. Und so kam das Zeug, sozusagen als Re-Import wieder nach Europa. So, vielleicht versteht dein Freund Paul jetzt statt der halben die ganze Wahrheit :-))))))“

Also Paul und ich, wir kommen aus dem Osten und sind damit also naturgemäß die GUTEN. Und die Wahrheit haben wir nicht nur gepachtet, wir sind in ihrem Besitz und sie gehört uns. Vergammelte Milch? Welch ein Blödsinn! „Gammeln“ ist immer passiv, die Milch aber unter Umständen sehr aktiv – wenn auch plötzlich agierend, man spricht deshalb von der „spontanen Säuerung“.  Bei Martin Bühler gibt es einen interessanten Teil in seinem mit „Gesellschaftliche Evolution“ überschriebenen Aufsatz dessen Zwischentitel markanter Weise lautet: „Frischmilch oder Käse? Das Verhältnis sozialer zu biologischer Evolution.“ Da geht es um eine Fallstudie von Durham (1991) zur Verbreitung des Frischmilchgenusses sowie der Milchverarbeitung.Es heißt dort:

Bei den Säugetieren wird der Nachwuchs in der Regel durch Muttermilch aufgezogen. Alle Säuger entwöhnen sich aber im Laufe ihrer Entwicklung von der Milch, mit einer Ausnahme: dem Menschen. In gewissen Regionen der Erde verfügen erwachsene Menschen über ein Gen, welches Laktose (Milchzucker) abbauen kann. Daneben ist eine ebenfalls regional unterschiedlich intensive Milchverarbeitung zu beobachten. In seinem Beispiel versucht Durham für diesen Sachverhalt eine Antwort zu finden. In der Zeit, als sich die Menschen als Jäger und Sammler ihre Nahrung beschaffen mussten, konnte dieses „Laktoseabbau-Gen“ kaum eine Relevanz besitzen, da die Milch als Nahrungsquelle nicht erschlossen war. Gleichzeitig mit dem Aufkommen der Viehhaltung wurde jedoch die Milchwirtschaft möglich und so konnte die Frischmilch als bequeme Quelle für Kalzium nutzbar gemacht werden. Kalzium wird vom Organismus für den Aufbau der Knochen benötigt und wird insbesondere durch den Abbau von Milchzucker gewonnen. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte es nur mit erheblich höherem Aufwand, beispielsweise durch ausreichenden Fischverzehr, zugeführt werden. Mit der Gewinnung von Frischmilch wurde das „Laktoseabbau-Gen“ zum evolutionären Vorteil des Trägers. Dieser konnte sich nun mit geringem Aufwand genügende Mengen an Kalzium zuführen, ohne die Mühsal des Fischens auf sich zu nehmen. Menschen ohne dieses Gen konnten die Laktose nur in viel geringerem Masse abbauen, was die Wirkung der Milch als Kalziumquelle stark verminderte. Zudem war der übermässige Konsum von Frischmilch für diese Menschen nicht verträglich. In der Folge vermehrten sich die Träger des „Laktoseabbau-Gens“ überproportional und es bildeten sich so regional Menschenpopulationen heraus, welche sich nahezu zu 100% aus Besitzerinnen und Besitzern des „Laktoseabbau-Gens“ zusammensetzen. Kulturell wurde die Tendenz zum Frischmilchkonsum durch entsprechende mythologische Ermutigungen gefördert. Die Personen, welche in diesem Klima des kulturell bevorzugten Frischmilchkonsums an Laktoseunverträglichkeit litten, wurden durch die natürliche Auslese aussortiert. Die kulturellen Veränderungen der Milchproduktion, der Nahrungsmittelauswahl und der Mythologie hatten so wiederum Rückwirkungen auf die biologische Verbreitung der Laktoseverträglichkeit.

In Populationen, welche sich vermehrt der Sonne ausgesetzt sahen, konnte eine andere Form der Kalziumgewinnung verwendet werden. Durch die Säuerung der Milch und die Weiterverarbeitung zu Käse oder Joghurt konnte der Milchzuckeranteil reduziert und so die Milch auch für Menschen geniessbar gemacht werden, welche über kein „Laktoseabbau-Gen“ verfügen. Die Kalziumquelle erschliesst sich allerdings nicht direkt, sondern mit Hilfe von Vitamin D, welches in der Haut durch UV-B-Bestrahlung produziert wird. Daher wird in Gebieten mit hoher Sonneneinstrahlung kein „Laktoseabbau-Gen“ benötigt. Auch hier ist eine kulturelle Erfindung – die Milchverarbeitung – letztlich entscheidend an der Gestaltung der Gen-Ausstattung beteiligt. Durham sieht in beiden Methoden zum Kalziumgewinn einen Beweis für die „Partnerschaft von Gen und Kultur“. Die kulturelle Ermutigung zur Milchproduktion respektive zum Frischmilchverzehr nimmt auf den biologischen Sachverhalt Rücksicht, dass in den entsprechenden Gebieten das Gen zum Laktoseabbau unterschiedlich verteilt ist und wirkt dadurch wiederum auf die Verteilung des Gens zurück. Wenn in Gebieten mit mangelnder Sonneneinstrahlung das „Laktoseabbau-Gen“ kulturell nicht bevorzugt worden wäre, hätten diese Populationen kaum ihren Bedarf an Kalzium decken können und umgekehrt hätte der Verzicht auf die Milchwirtschaft in Populationen ohne genügende Verbreitung des „Laktoseabbau-Gens“ verheerende Folgen. Durch das Zusammenspiel von Kultur und Biologie wurden die Ãœberlebenschancen beider Populationen schliesslich erhöht.“

(Quelle: Soz:mag – Martin Bühler – Artikel – hier)

Natürlich, und hier irrt mein Freund noch einmal, können auch Milchprodukte verderben – das Verderben unterscheidet sich natürlich auch hier von Reifung und Edelschimmel…

Aber was soll es, was wäre der Westen ohne uns? Die wüssten bis heute nicht, was ein Ampelmännchen ist und hätten keinen Grünpfeil und vor allem: Wenn die Sonne im Osten nicht aufgehen würde, hätten die im Westen auch keine Glühlampen – weil ohne Licht und Wärme gäbe es gar kein Leben, nicht im Osten und im Westen schon gar nicht.

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