Der Hertha-Fan

Ein Foto von ihm habe ich nicht gemacht.

Er saß zwei Tische weiter, seine Affinität zum weißblauen Fußballverein durch eine Baseballmütze deutlich demonstrierend. Aber vielleicht war diese öffentliche Demonstration eben doch gar keine. Seine Augen starrten ohne Hoffnung auf die Flasche Bier, die seine linke Hand umklammerte. In seiner rechten Hand zitterte die selbstgedrehte Kippe. Sein graues, struppiges Haar unter der Mütze hervorquellend, die von Krätze zerschundenen Hände, die zerfledderte Alditüte mit Klamotten – ich ahnte: einer ohne OBDACH. Ob einer ein Dach über dem Kopf hat, oder ohne Obdach ist wenn er schlafen will, ist wesentlich auch für die Wahrnehmung durch andere. Hat einer kein Obdach, ist einer sein Obdach los, hat er schlechte Karten in unserer Gesellschaft – er gilt als „unten angekommen“. Ist einer unten angekommen, ist er runter-gekommen, ist er irgendwie „erledigt“ für die meisten von uns. Dem ist nicht mehr zu helfen, denkt man sich innerlich (wenn man überhaupt darüber nachdenkt), jedenfalls ich kann ihm nicht helfen, denkt man und wahrscheinlich will der auch nicht, dass ihm geholfen wird – das und so denken die meisten und meistens denke ich so auch. Heute dachte ich daran, dass ich ihn fotografieren müsste, und ich habe darüber nachgedacht, ob ich ihn frage, ob ich ein Portrait machen dürfe. Aber ich habe den Gedanken verworfen, obwohl ich das Bild gern gemacht hätte. Ich habe mit seiner Scham gerechnet. Und ich hab mich geschämt.

Der Hertha-Fan war vielleicht gar kein Fan des Fußballvereins. Vermutlich hat ihm irgendwer die Mütze geschenkt. Und er trägt sie, weil er dann ein wenig mehr ist wie alle anderen. Fast so ein Mensch wie wir – auch wenn wir gar keine Hertha-Fans sind.

Photos 

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