Was hat denn Schiller mit Europa zu tun? Ein Bericht über PulseOfEurope – Gendarmenmarkt 26.3.2017

Ehrlich gesagt, Europa war mir immer irgendwie fern. Ein Begriff aus dem Geografieunterricht, so fassbar wie Lichtgeschwindigkeit, eine gedachte Zusammenfassung.  Mein persönliches Europa endete für mich im Westen an der Wollankstraße und am Brandenburger Tor, im Osten am Ural. Dass es ein Leben hinter der S-Bahnbrücke an der Wollankstraße gab, wusste ich aus meiner frühen Kindheit und aus einer bunten Mischung von Informanten. Medien, Freunde und Bücher hielten mich auf dem Laufenden.  Der kräftige Geruch von Jakobs-Krönung  und Lux-Seife, der Geschmack von Nektarinen und Sarotti-Schokolade, all die fremden Dinge, die meine Großmutter über die Grenze schleppte, rundeten das Bild. Und ihre Angst, als ein Immobilienhai Mitte der 60er Jahre ihre Mietwohnung kaufte.

Frankreich war so weit weg wie Australien und Warschau näher als Peking, aber Baku eher erreichbar als London. Ich war Internationalistin – alle Menschen sind gleich, und dafür, dass es allen gleich gut geht, muss man kämpfen. So wurde ich erzogen, so denke ich auch heute. Nicaragua und Vietnam waren mir zeitweise näher als Westberlin. „Hoch die internationale Solidarität“, skandierten wir und meinten es auch so.

Einer wird gewinnen mit Hans-Joachim Kuhlenkampff gehörte auch zu meiner Kindheit und die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft verfolgte ich ebenso interessiert wie die Entwicklung des RGWs (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe). Natürlich war ich Mitglied der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft – kurz DSF.

Es gab Westeuropa und Osteuropa und das waren eher politische Begriffe als räumliche Beschreibungen.

Seit die Mauern gefallen sind, steht auch mir die Welt offen, soweit ich das Reisegeld habe. Ich war in New York und London, in Rom und Bukarest. Ich war noch niemals in Paris. Das ist ein Zufall. Ich bin froh, dass ich jederzeit nach Paris reisen könnte – ohne einen Pass, einfach so – spontan. Ich möchte, dass alle Menschen überall hinreisen können, ohne einen Pass – einfach so – spontan. Ich träume gern.

Es fällt mir auch heute noch schwer zu sagen: Ich bin Deutsche. Früher sagte ich: Ich komme aus der DDR. Das war einfacher. In meinem Bewusstsein war die DDR die Absage an Faschismus und ein Garant für Frieden, Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft. Ich würde zu niemandem sagen, ich bin Europäerin. Das schiene mir irgendwie immer unpassend. Es käme mir falsch vor, einer Japanerin zu sagen, ich sei Europäerin – klingt für mich irgendwie nach: Europa gegen den Rest der Welt. Nicht sympathisch. Und einer Italienerin, die mich fragte, woher ich käme, würde ich auch nicht antworten, dass ich aus Europa komme.

C. ist waschechter Wessi. Er ist mit der deutsch-französischen Freundschaft großgeworden und liebt Frankreich sehr. Er fühlt sich als Europäer, allerdings – glaube ich – gehören für ihn Tschechien oder Bulgarien eher nicht zu diesem, seinem Europagefühl. Und Ungarn schon gar nicht. Und Polen auch nicht.  Und ich denke, dass das nicht ausschließlich an den politischen Verhältnissen in diesen Ländern liegt, sondern auch daran, dass sie ihm fremd sind. Obwohl eine Klassenfahrt ihn in den 70er Jahren nach Rumänien führte.

Das alles vorweg – es ist mein Blickwinkel.

#PulseOfEurope wollte ich mir einfach mal anschauen. Die schweigende Mehrheit, die sich zu Wort meldet? Der europafarbene Aufstand der Anständigen? Ich hatte die Hoffnung im Hinterkopf, es möge irgendwie in Ordnung sein und sinnvoll. M. und ich waren zeitig auf dem Gendarmenmarkt. Es gab 2 Stände, an denen man gegen eine Spende Winkelemente erwerben konnte. Fähnchen, Fahnen oder Anstecker, Luftballons. Das erinnerte an die DDR. Der Genosse Friedrich Schiller mitten auf dem Platz, umringt von seinen 4 Gefährten war mit Luftballons behängt, eine blaue 6 und eine blaue 0, blaues E und blaues U, dazu ein roter Herzballon – kitschiger ging es vermutlich nicht.

Die Plätze auf den wenigen Bänken waren heiß begehrt, wir saßen eine Weile in der Sonne und beobachteten die Schlangenbildung vor den Ständen mit den Winkelementen. So lange Schlangen erinnerten auch an die DDR. Mit Fähnchen zu wedeln,  das war mir schon immer fremd, aber ganz offenbar geht das nicht allen Menschen so. Es lebe die Vielfalt!

Es wurden Text-Zettel verteilt: Wir wollen heute die Ode an die Freude singen, hieß es. Mmm ja, die Europahymne hat eigentlich keinen Text, aber ohne Text kann man nicht zusammen singen und Lalala ist kein Text. Außerdem ist Schillers Text durchaus geeignet.

Ode an die Freude

Ode an die Freude – Punkt

Der Punkt hat mir gefallen. Ode an die Freude – Punkt. Keine satzzeichenlose Ãœberschrift, kein Doppelpunkt – nein, ein Punkt. So ein Zeichen kann man setzen.

Was hat denn Schuiller mit Europa zu tun, fragte mich C. am Abend zu Hause. Ich schwieg. Was hätte ich auch antworten sollen? Aufklärer, Dichter usw. ? Das weiß C. natürlich selbst.

Wie viele Kriege mußten geführt, wie viele Bündnisse geknüpft, zerrissen und aufs neue geknüpft werden, um endlich Europa zu dem Friedensgrundsatz zu bringen, welcher allein den Staaten wie den Bürgern vergönnt, ihre Aufmerksamkeit auf sich selbst zu richten und ihre Kräfte zu einem verständigen Zwecke zu versammeln! (Friedrich Schiller)

Das Zitat hatte ich gerade nicht im Kopf, wäre aber gut gewesen.

Die Bürger versammelten am Sonntag nicht nur ihre Kräfte, sondern sich auch selbst auf einem Platz. Der Gendarmenmarkt füllte sich, manches erinnerte mich an einen Fanblock beim Fußball. Zum Glück fehlte die gegenerische Mannschaft.  Es ging mir ein wenig zu gesittet, zu brav, zu organisiert zu, aber die freundliche Grundstimmung mochte auch dem Wetter zu verdanken sein. Blauer Himmel, Sonnenschein. Eine Woche zuvor hatte noch Giora Feidman wohl treffend gesagt: „Ich habe noch nie vor so vielen Regenschirmen gespielt.“ Da war ich nicht dabei. Aber vielleicht war auch Feidman ein Grund, weshalb ich mich auf den Weg machte.

Den „Erfinder“ des PulseOfEurope hatte ich gegoogelt – wie man das so macht. Daniel Röder, Rechtsanwalt aus Frankfurt. Schien mir nicht verdächtig, seine liberalen Anschauungen und seine Äußerungen wirken auf mich glaubhaft. Die zehn Thesen zu Europa,  es gab sie in weißer/gelber Schrift auf blauem Grund, die so wischi-waschi daherkommen sind der minimale Konsens – der kleinste Nenner. Vielleicht braucht es den. Ja, es fehlt das Wort „sozial“ – es ist keine Rede von all den Ungerechtigkeiten in Europa. Die Griechen kommen ebensowenig vor wie die Jugendarbeitslosigkeit in den Ländern Südeuropas, es geht nicht um Umverteilung von oben nach unten, die bitter nötig wäre – es geht wohl mehr um Schiller als um Marx, aber es gilt etwas zu verteidigen, Ziele, die auch Marx und Schiller einen: Frieden und Werte wie Freiheit und Gerechtigkeit.

Endlich unsre Staaten – mit welcher Innigkeit, mit welcher Kunst sind sie in einander verschlungen! wie viel dauerhafter durch den wohlthätigen Zwang der Noth als vormals durch die feierlichsten Verträge verbrüdert! Den Frieden hütet jetzt ein ewig geharnischter Krieg, und die Selbstliebe eines Staats setzt ihn zum Wächter über den Wohlstand des andern. Die europäische Staatengemeinschaft scheint in eine große Familie verwandelt. Die Hausgenossen können einander anfeinden, aber hoffentlich nicht mehr zerfleischen. (Friedrich Schiller)

Mit der Gerechtigkeit ist es in Europa nicht weit her und der in den 10 Grundthesen (PulseOfEurope) erwähnte Wohlstand ist für viele Menschen in Europa leider keine Lebensrealität, sondern nur ein Traum. Trotz alledem. Trotz aller Kritik: Es hat mir gefallen, dass es bei den Veranstaltungen ein offenes Mikrofon gibt. Die Redebeiträge am Sonntag waren gut. Haupttenor: Nie wieder Krieg! Ja, das eint. Dieser Treffpunkt am Sonntag ist eine Gelegenheit, auch über fehlende Gerechtigkeit und einen Mangel an Solidarität in der Gesellschaft zu sprechen.

Es gab ein kleines Transparent, das einen polnischen und einen deutschen Spieler (für die Fußballaffinen: Müller und Lewandowski) beim Torjubel zeigt.

Gemeinsame Ziele

Gemeinsame Ziele

Die Studentin, der es gehörte, kommt aus Polen und studiert in Berlin – Politikwissenschaft.  Das lässt hoffen, für Polen, Deutschland und Europa.

Wie meinte doch Schiller?

Wie verschieden auch die Bestimmung sei, die in der bürgerlichen Gesellschaft Sie erwartet – etwas dazu steuern können Sie alle!

Ich hoffe, es kommen am Sonntag noch mehr Menschen zu PulseOfEurope. Und ich hoffe, sie tragen auch Transparente mit wie „Soziale Gerechtigkeit in ganz Europa“ und „Weg mit Hartz4“ und „Gegen Jugendarbeitslosigkeit“ und „Bedingungsloses Grundeinkommen in ganz Europa“. Man wird ja wohl noch träumen dürfen.

PS.: Mir ist (vorerst) schnurzwurzpiepe, ob Brüssel das (mit-)finanziert und Herr Röder klientenfishing betreibt und noch bekannter werden will – das können die Teilnehmer zur Nebensache machen :-).

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