Der Aufsatz von Christian M. oder: Wie ein Sieger der Geschichte die Welt sieht

Christian M. ist ein Sieger der Geschichte. Ein zeitweiser Sieger der Geschichte, denn schließlich entwickelt sich die Welt weiter und so wie sie ist, darf sie nicht bleiben. Der Genosse Karl Marx hat mit seiner Analyse des Kapitalismus immer noch recht. Der Kapitalismus fault und stinkt und ist dem Untergang geweiht. Aber vorläufig ist Christian M., 1952 im Erzgebirge geboren und in der DDR aufgewachsen, ein stolzer Sieger.

Gefunden habe ich den Aufsatz von Christian M. zufällig im Internet. Auf einer Seite, auf der genau erklärt wird, warum die DDR schlecht war und wie gut es ist, dass es sie nicht mehr gibt. Es geht auf dieser Seite, die sich mit dem Schulunterricht beschäftigt, vor allem um die Indoktrination von Kindern in der DDR. Die gab es tatsächlich. Aber das, was auf dieser Seite geschieht, das ist nichts anderes: Indoktrination.

Das macht mich wütend. Und zwingt mich in die fast schon gewohnte Rolle des Anwalts, des Verteidigers des untergegangenen Landes.

Der Aufsatz von Christian M. wurde im Staatsbürgerkundeunterricht geschrieben, 1967, Christian war im 8. Schuljahr. Das Thema lautete: „Warum ist das DDR Wirtschaftsmodell gut, richtig und modern und warum ist das westdeutsche Wirtschaftssystem alt, unmodern und dem Untergang geweiht.“
Christian schrieb nur wenige – durchaus mutige Zeilen – die Frage sei falsch gestellt, richtig müsse sie lauten: „Warum ist das DDR Wirtschaftssystem unmodern, unproduktiv und dem Untergang geweiht, und warum ist das westdeutsche Wirtschaftssystem effektiv, modern und zukunftsfähig“. Aber auch wenn es mutig war, was Christian schrieb – ist es auch richtig? Die einseitige Beurteilung all seiner Mitschüler von damals durch Christian ist lesenswert – das waren nur Heuchler und wer am besten heuchelte, „der durfte zum Abitur und später sogar studieren“. So wie Angela Merkel und Joachim Gauck zum Beispiel?

Das Fazit von Christian M. zum Verschwinden der DDR ist auch sehr einfach – wörtlich: „Seit dem dieser gewaltbereite Staat nicht mehr existiert haben wir nun endlich in Europa Frieden.“

Ich bin überzeugt, dass Christian M. das wirklich glaubt, aber wahr ist es leider nicht.

Christian M. ist nur ein – zugegeben einfaches Beispiel – für die selektive Wahrnehmung der Vergangenheit. Der untergegangene Staat in all seinen Facetten muss als grausames und verabscheuungswürdiges Schreckgespenst vor allem deshalb geächtet werden, weil niemand jemals wieder auf die Idee kommen soll, eine Gesellschaft, die frei ist von Ausbeutung, wäre vielleicht doch etwas, worüber man noch einmal nachdenken muss.

Aber die DDR taugt nicht als Schreckgespenst. Sie hatte mehr als ihre dunklen Seiten. Wer etwas über das Land der untergegangen Hoffnung wissen will, kann sich der Wahrheit nähern, wenn er „ihre“ Bücher liest und die Filme sieht, die Bilder anschaut und die letzten unzerstörten Denkmale sucht.

Den Aufsatz von Christian M. findet man auf der folgenden Seite, wenn man sich weit genug nach unten liest – ich empfehle das ausdrücklich: KLICK

Berlin im Mai 2015 / Karl Marx und Friedrich Engels an ihrem Ausweichstandort

Berlin im Mai 2015 / Karl Marx und Friedrich Engels an ihrem Ausweichstandort

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