Ich verstehe die Menschen nicht!

Sie wartete ebenso wie ich. Eine Reihe anderer Leute warteten mit uns. Bestimmt sieben oder acht Menschen verschiedenen Alters. Alle warteten ruhig und schwiegen. Nur eben diese Frau nicht. Eine andere junge Frau, die am Fenster saß, las in „Das goldene Blatt“, wir anderen starrten irgendwie ins Leere, immer bemüht, möglichst nicht den Blick eines anderen zu treffen. Ein junger Mann spielte mit seinem Handy.

Sie, die Frau, die ständig diesen einen Satz sagte, sah einem nach dem anderen von uns ins Gesicht. Unaufhörlich wiederholte sie dabei immer wieder monoton die Worte: Ich verstehe die Menschen nicht. Zwischen den Sätzen ließ sie kurze Pausen, als erwartete sie, dass jemand etwas sage, aber natürlich niemand sagte etwas.

Ich vermute, alle dachten wie ich: Die ist krank und zu bedauern. Ich glaube, wir waren auch alle erleichtert, als ihr eine Mitarbeiterin des Bauamtes ihre Unterlagen brachte. Sie verpackte sie umständlich in ihrer altmodischen Handtasche und ging zur Tür. Im Gehen schwieg sie, aber an der Tür blieb sie stehen, drehte sie sich noch einmal zu uns um und sagte wieder diesen Satz: Ich verstehe die Menschen nicht.

Ich hätte die Frau bestimmt schon wieder vergessen. Aber auf dem Weg nach Hause, wurde ich mehrfach an sie erinnert. Als ich durch den Park ging, kam ich an einem der Parkwächter vorbei. Mit seinem Stock mit der Spitze sammelte er Papier vom Rasen. Als ich an ihm vorbeilief, sagte er laut: Ich verstehe die Menschen nicht. Wozu stehen hier denn Papierkörbe? Eigentlich war es keine Frage, er hatte es nur so dahingesagt, aber so, dass ich es hören musste und irgendwie fühlte ich mich zu einer Antwort verpflichtet und sagte: Ja, das ist schwer zu verstehen…

Ich wollte noch bei dem Bäcker im Einkaufszentrum ein „Störtebecker“ holen, hatte mein Portmonaie ganz unten im Rucksack verkramt. Deshalb stellte ich den Rucksack auf das Brett vor der Tafel mit den Inseraten. Eine der Anzeigen fiel mir sofort ins Auge:

„Ich verstehe die Menschen nicht!“ – Wenn es Ihnen so geht, zögern Sie nicht, es gibt Hilfe!

Es folgte eine Klaviatur mit der Telefonnummer. Ich kann es mir kaum erklären, aber irgendwie war ich neugierig, und obwohl ich das selbst ziemlich verrückt fand, riss ich eine der Nummern ab und steckte sie die Jackentasche.

Es gab kein Störtebecker mehr. Die Verkäuferin bot mir ein Mehrkornbrot an, aber das wollte ich nicht. Ich mag nur das Störtebecker, da sind Wallnüsse und Haselnüsse drin. Jedenfalls bin ich extra wegen des Störtebeckers noch einen Umweg gelaufen – ich hoffte, dass ich bei einem anderen Bäcker erfolgreicher wäre. Ich hatte Glück, ich bekam eines – das letzte. Jetzt war eigentlich alles gut. Wäre mir nicht dieser Junge Mann mit dem auffälligen T-Shirt begegnet. Auf dem schweinchenrosafarbenen Shirt prangte in schwarzer Schrift: Ich verstehe die Menschen nicht!

Später, viel später, musste ich immer wieder an die Frau denken und an ihren ständig wiederholten Satz. Ich hätte sie ansprechen sollen. Wie sollen sich Menschen verstehen, wenn sie nicht miteinander reden?

 

 

 

 

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