Mann im Käfig

Der Nachrichtensprecher verkündet das aktuelle Flugzeugunglück. Axel Nehring reagiert mit einem kurzen Anheben des rechten Fußes. Ein wenig weniger Gas, der Wagen wird kaum langsamer, die Straßen sind leer. Noch hat der Berufsverkehr nicht eingesetzt. Axel Nehring würde gern eine Kassette einschieben, aber den Wetterbericht will er auf keinen Fall verpassen.

Früher habe ich Nachrichten gehört, heute höre ich Wetterberichte, so ändern sich die Zeiten, denkt er. 

Das stimmt nicht, an ruhigen Tagen, zu Hause, manchmal, da hört er immer noch auf die Nachrichten. Zugeben würde er das nicht, nicht einmal vor seiner Familie. 

Interessiert mich nicht, das ganze Zeug, sollen sie doch machen was sie wollen, sagt er. Und: Sie machen ja doch was sie wollen.

Der Wetterbericht verkündet ein Tief, Regenschauer. Und kälter soll es auch werden. Axel Nehring schiebt eine Kassette ein, dreht die Heizung auf. Sich noch ein paar Minuten aufwärmen, will er. Noch ein paar Minuten das Gefühl haben, über sich selbst bestimmen zu dürfen. Es ist nur ein Gefühl, trügerisch wie Gefühle eben oft. Und er weiß das. Schon während er auf das Betriebsgelände fährt, drückt er auf den Kassettenauswurf. Hier hat alles Private ein Ende. Niemanden hier geht an, welche Musik er hört. Axel Nehring öffnet seine Tasche, greift unter die Frühstücksbrote, holt einen Gegenstand hervor, der in ein Geschirrhandtuch gewickelt ist, öffnet das Handschuhfach und schiebt den Gegenstand hinein.

Bei dem Gegenstand handelt es sich um eine Pistole.

Schießen hat er gelernt. Damals bei der Nationalen Volksarmee, als Soldat auf Zeit, der zum Schutz des Regierungsviertels in Wandlitz eingesetzt wurde, ließ man ihn nicht nur mit der Kalaschnikow, sondern auch mit einer Pistole üben. Damals war er froh über diesen Einsatzort. Der lag nicht eben weit von Berlin und hatte auch sonstige Vorteile. „Durchbrüche“ wie an der Grenze waren kaum zu befürchten. Nicht, dass Axel sagen würde, die Zeit wäre ihm „wie im Fluge“ vergangen. In den ersten Monaten schrieb er traurige Briefe an Freundin und Freunde, erregte sich über das ganze Gehorsamssystem. Dann wurde er gleichgültiger, fügte sich ein und hoffte auf das Ende. Er sah die Armeezeit als einen unvermeidbaren Lebensabschnitt an. Freute sich auf das darauf folgende Studium, die Zulassung bereits in der Tasche, und sah seinem weiteren Werdegang hoffnungsfroh entgegen. Axel hatte sich für ein Studium der Kulturwissenschaften entschieden. Aufgrund seiner Zeitsoldatenverpflichtung, seiner frühen Kandidatur in der SED und sehr guter Leistungen in der Schule, gehörte er zu denjenigen, denen gesagt wurde, dass ihnen alle Wege offen stünden.

Axels Weg führte in den Käfig.  Nicht geradewegs, nicht auf Umwegen. Einfach so. Irgendwann einmal hatte er eine Entscheidung getroffen, deren Tragweite rückblickend er damals nicht erkennen hatte können.

Axel Nehring greift nach der Tasche mit den Frühstücksbroten, verschließt sorgfältig seinen Opel Astra – das Familienauto – und geht quer über den Parkplatz auf den Käfig zu. Es ist kurz vor 5 Uhr 30. Aufgestanden ist er um halb Vier, er ist trainiert, ohne das Weckerklingeln pünktlich aufzuwachen. Wie immer hat Axel seine Frau Susanne routinemäßig zugedeckt und im Halbdunkel nach seinen Sachen gegriffen. Susanne hat einen leichten Schlaf, seit ihr Arbeitsvertrag im Institut nur noch von Halbjahr zu Halbjahr verlängert wird, schläft sie noch schlechter. Vielleicht komme ich auch in die Wechseljahre, sagt sie manchmal, selbst zweifelnd, was ihr lieber wäre. Die Kinder sind nicht so empfindlich. Die schlafen fest bis ihr Wecker klingelt. Axel muss ihretwegen nicht leise sein.

Fünf Minuten vor halb Sechs checkt Axel ein, drei Minuten vor halb Sechs steht er vor dem Tor zum Käfig, schließt auf, geht hinein. Delle ist noch nicht da. Delle heißt eigentlich Roberto Delle. Lässt sich aber Delle nennen. Im Käfig wird geduzt. Ansonsten siezt man besser. Das schafft kein unnötiges Gefühl von Vertraulichkeit.  Der Käfig ist sehr viele Meter lang, noch mehr Meter breit und einige Meter hoch. Axel schließt die Tür zum Container auf. Delle kommt.

Scheiß Wetter haben sie angesagt, sagt er. Axel nickt.

Im Moment geht’s ja.

Beide sehen besorgt zum Himmel. Es ist noch dunkel. Dunstig, wie immer um diese Zeit in der Stadt. Delle schaltet das Licht an. Scheinwerferartige Lampen beleuchten den Käfig.

Kaffee? Delle stellt seine Thermoskanne auf den Tisch. Axel holt zwei Kaffeetassen unter dem Tisch hervor und stellt sie neben die Kanne. Delle gießt ein.

Axel nullt die Kasse. Dann kann‘s ja losgehen, sagt er.

Delle guckt auf die Uhr: Wenn ich dran denke, wann Feierabend is, wird mir schlecht.

Axel sagt nichts dazu. Axel Nehring hat eine Pistole im Handschuhfach. Er fühlt sich besser als noch vor ein paar Tagen. Das war ja nicht mehr Auszuhalten. Das Besorgen der Pistole war kein Problem. Von jenem Moment an, als er sich entschlossen hatte, eine zu beschaffen, richteten sich alle seine Gedanken auf dieses Ziel. Schnell lernte er die richtigen Leute kennen, er wählte eine kleine Waffe, auch keine besonders teure. Er wusste, dass sie vermutlich zu irgendeinem Verbrechen benutzt worden war, aber für ihn spielte das keine Rolle.

Die ersten Kunden stehen schon kurz vor Sechs da, sie öffnen erst um Sechs, aber die Kunden laden ihr Leergut ab und warten. Sie blicken auf die geschlossene Containertür. Los, Jungs, macht mal hin. Einer klopft an die Tür.

Delle geht raus. Ist ja schon gut. Er karrt mit dem Wagen voller Kisten los, ruft Axel die Werte zu. 12 Berliner Pilsner, 3 Cola, 10 Warsteiner. Axel tippt ein, reicht dem Kunden den Bon. So geht das. An der Kasse wechseln sie sich ab. Mal Axel, mal Delle. Wenn Axel aufs Klo geht, macht es Delle allein. Und umgekehrt. Sie sind ein eingespieltes Team. Delle ist aber schon länger hier. Er hat gleich hier angefangen. Für Axel ist es ein klarer Abstieg. Eine Strafversetzung.

Mach dir doch daraus nix, hier haste mehr Ruhe als drin. Sagt Delle.

Der hat gut reden, denkt Axel, keine Frau, kein Kind, keine Verpflichtungen, da reichen die zwei Großen Scheine. Zwei Große, inklusive Überstunden. Und die nicht zu knapp. Die gehen auf die Knochen. Aber es ist nicht das Geld. Der Käfig ist es, der Käfig. Während Axel die Flaschenkästen aufeinander stapelt, sie von hier nach dort schiebt, blickt er durch den Käfig. Es gibt ein Drin und ein Draußen. Mehr als ein Drittel des Tages verbringt er im Drin.

Wenn es Ihnen bei uns nicht mehr passt Herr Nehring, es steht Ihnen frei zu gehen. Das ist Ihre eigene Entscheidung. Müller-Mertens hat es ausgesprochen. Und gelächelt dabei.
Axel hat geschluckt. Er weiß, dass er nicht gehen kann. Müller-Merten ahnt das. Müller-Merten hat seinen Spaß dran, den Leuten zu zeigen, wer der Herr im Hause ist. Eigentlich ist auch Müller-Merten nicht der Herr im Hause. Die eigentlichen Herren halten sich außerhalb des Hauses auf. Sie beschäftigen sich mit der Expansion des Unternehmens. Nehring und Müller-Merten würden sich auch gern mit der Expansion des Unternehmens beschäftigen. Und weil Müller-Merten weiß, dass auch Nehring das will, hat er dafür gesorgt, dass Nehring im Käfig landet. So einfach liegen die Dinge. Für Nehring ist der Käfig das Letzte. Er, der Hochschulabsolvent, der jede sich anbietende Qualifizierungsgelegenheit ergriffen hat, endet im Käfig. Die Zertifikate, die er in der Tasche hat, kann er kaum noch zählen und trotzdem der Käfig. Und ein Arschloch ist er auch nicht. Immer freundlich und kollegial, hilfsbereit und verständnisvoll. Das könnten alle bestätigen, die ihn näher kennen. Seine Arbeitskraft  hat  er immer restlos eingesetzt und landet im Käfig. Er versteht die Welt schon lange nicht mehr.

Gegen Mittag wird es für eine Weile weniger hektisch. Die Mittagsflaute. Delle und Axel sitzen im Container und kauen Brote. Delle hat sich einen Salat aus der Kantine geholt. Axel geht schon lange nicht mehr in die Kantine. Dafür reicht es nicht. Obwohl sie beide verdienen.

Ich brauch immer was Frisches, sagt Delle. Mach nicht so ein Gesicht.

Was mach ich denn für ein Gesicht, fragt Axel.

Als wenn du einen umbringen wolltest, sagt Delle

Den Müller-Merten könnte ich wirklich…, sagt Axel.

Ich weiß wirklich nicht, warum du dich so aufregst, der steht doch immer kurz vorm Herzinfarkt, da tu ich lieber was für meinen Körper. Ich brauch kein Fitness-Studio.

Kennst du Rilke, fragt Axel. Den Dichter mein ich. Da bin ich immer noch naiv genug, danach zu fragen, denkt er und lächelt dabei über sich selbst.

Nee, sagt Delle. Wie kommst darauf?

Der hat mal ein Gedicht geschrieben, das fällt mir hier immer wieder ein.

Für Gedichte hab ich nix übrig. Meiner ersten Freundin hab ich mal eins geschrieben. Und in der Schule mussten wir… Delle lacht.

Das Telefon klingelt.

427 Leergutannahme, meldet sich Delle. Dann: Ja Chef, gleich. Ja, Herr Müller-Merten. Ja, mach ich. Ich muss rüber.

Delle nimmt den kaum angerührten Salat und stellt ihn unter den Tisch. Axel grinst, obwohl ihm gar nicht danach ist. Er ist wütend. Der schafft mich nicht, der nicht. Seit Tagen das gleiche Theater. Müller-Merten weiß genau, wenn er Delle abzieht, ist Axel Nehring in der größten Belastungsphase allein. Während Axel arbeitet, spricht er im Kopf den Rilke:

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe

so müd geworden, daß er nichts mehr hält. 

Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe 

Und hinter tausend Stäben keine Welt. 

 

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,  

der sich im allerkleinsten Kreise dreht,  

ist wie ein Tanz um eine Mitte,  

in der betäubt ein großer Wille steht. 

 

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille 

Sich lautlos auf – dann geht ein Bild hinein, 

geht durch der Glieder angespannte Stille  

und hört im Herzen auf zu sein.  

Besonders liebt Axel die Zeile: In der betäubt ein großer Wille steht.

Wie jener Panther fühlt er sich. Was er auch anfing in seinem Leben, immer ist er im Käfig gelandet. Deshalb hat er sich die Pistole besorgt. Seit er die Pistole hat, fühlt er sich besser.

Manchmal, wenn er die Augen schließt, sieht er sich, wie er die Pistole auf Müller-Merten richtet, wie der um sein Leben wimmert. Angst in den Augen.

Kiste um Kiste, Kasten auf Kasten. Die Kunden stehen Schlange. Axel Nehring hat seinen Arbeitsrhythmus angepasst. Er arbeitet so schnell er kann. Es regnet. Das Tief aus dem Wetterbericht hat den Käfig erreicht. Der Kittel klebt auf dem Hemd, das Hemd klebt auf der Haut. Nach zwei Stunden kommt Delle zurück. Es hat aufgehört zu regnen.

Sonnabend eine Extraschicht, sagt Müller-Merten. Delle berichtet es, als teile er ein Fußballergebnis der 3. Liga mit.

Axel denkt an die Pistole im Handschuhfach. Und daran, dass er es sich nicht leisten kann, einfach Nein zu sagen und dem Müller-Merten den Stinkefinger zu zeigen.

Sie arbeiten schweigend. Sind freundlich zu den Kunden.

Gegen Feierabend kommt Müller-Merten vorbei. Alles klar? Vielleicht könnten wir Sie im Verkauf wieder brauchen Herr Nehring, wenn das weiter so gut klappt hier. Alles klar.

Delle nickt.

Axel nickt. Später fährt er mit dem Opel an den Badesee. Er öffnet das Handschuhfach, zieht die in das Geschirrtuch gewickelte Pistole heraus, wischt sie sorgfältig ab. Dann fliegt sie in hohem Boden ins Wasser.

Axel dreht sich um und geht. Einer wie er gehört einfach in den Verkauf, das ist doch klar. Das weiß auch Müller-Merten.

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält.  

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