Schnell findet man im weltenweiten Netz dutzende Interpretationen des einen Gedichts. Brechts „Die Liebenden“ eignet sich offensichtlich zum Sezieren. Ein Beispiel sei zur Betrachtung vorgeschlagen: KLICK
Wir ahnen, dass viele Schüler-Generationen mit der Analyse des Gedicht gequält wurden und werden. Muss man ein Gesicht so lesen, wie der Dichter es meint? Nein, das muss man nicht. Muss man es so verstehen, wie manche Lehrer meinen, dass es zu verstehen ist? Noch einmal NEIN.
Und muss man des Dichters Meinung teilen?
Nein.
Brecht irrt: Die Liebe ist den Liebenden ein Halt. Manchmal jedenfalls. Trotz des Kapitalismus, oder: dem Kapitalismus zum Trotz.
Berthold Brecht
Die Liebenden
Sieh jene Kraniche in großem Bogen!
Die Wolken, welche ihnen beigegeben
Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen
Aus einem Leben in ein andres Leben
In gleicher Höhe und mit gleicher Eile
Scheinen sie alle beide nur daneben.
Daß so der Kranich mit der Wolke teile
Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen
Daß also keines länger hier verweile
Und keines andres sehe als das Wiegen
Des andern in dem Wind, den beide spüren
Die jetzt im Fluge beieinander liegen
So mag der Wind sie in das Nichts entführen
Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben
Solange kann sie beide nichts berühren
Solange kann man sie von jedem Ort vertreiben
Wo Regen drohen oder Schüsse schallen.
So unter Sonn und Monds wenig verschiedenen Scheiben
Fliegen sie hin, einander ganz verfallen.
Wohin ihr?
Nirgendhin.
Von wem davon?
Von allen.
Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen?
Seit kurzem.
Und wann werden sie sich trennen?
Bald.
So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.
Und weil der Mensch ein Mensch ist, kann er die Geschichte bestimmen und Gedichte ändern.
Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen?
Schon lange.
Und wann werden sie sich trennen?
Nie!
So ist die Liebe Liebenden ein Halt.